Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
ihre Stimme zu versagen drohte.
Ohne weitere Umschweife holte Greta das Notizbuch hervor und reichte es ihm. Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch, und Mattes ließ den Skizzenblock verschwinden, ehe er Wein einschenkte und im Notizbuch zu blättern begann. Dabei überflog er lediglich die Seiten, betrachtete ihre Fotos und Zeichnungen, worüber sie froh war, denn die Geschichte, die sie aufgeschrieben hatte, gehörte Arjen. Mit dem Notizbuch wollte sie nur erreichen, dass Mattes begriff, was sie tat und warum es so wichtig war. Dass ihr das glückte, erkannte sie an seinem Gesichtsausdruck. Er begreift es, weil er auch einen Großelternteil hat, den er liebt und für den er sogar gern auf den zugebauten Hinterhof blickt.
Als Mattes die Seiten durchgesehen hatte und demonstrativ über das erste leere Blatt nach ihren Einträgen strich, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. »Ich bin heute Abend zu dir gekommen, um zu fragen, ob das Angebot noch steht, das du mir neulich am Strand gemacht hast … Dass du mir helfen könntest … Wobei ich im Augenblick noch nicht weiß, wonach man suchen müsste. Mein Großvater hat mir zwar von den Ereignissen auf Beekensiel erzählt, die sein Leben maßgeblich geprägt haben, aber ich habe das Gefühl, dass da noch mehr ist. Das liegt alles eine halbe Ewigkeit zurück, und ich glaube, dass er diese Erinnerungen seitdem mehr oder weniger verdrängt hat. Vielleicht braucht es lediglich einen Gegenstand oder einen bestimmten Ort von damals, um die Vergangenheit für ihn wieder lebendig zu machen. Würdest du mir helfen, einen Kindheitssommer meines Großvaters auf Beekensiel einzufangen?«
»Ja, das will ich gern tun«, erklärte Mattes ruhig. Er hatte das Notizbuch zugeschlagen und betrachtete Arjens Kinderfoto, das Greta auf dem Deckblatt eingefügt hatte.
Greta umfasste das Glas Wein mit beiden Händen und nahm einen Schluck, während Fado sich bei ihren Füßen zusammenrollte, seinen Korb in der Nähe des Kamins ignorierend. Ein erdiger und zugleich fruchtiger Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und kratzte im Rachen, er schmeckte nach einem fernen Land. Für einen Augenblick ahnte Greta, wie gemütlich der Abend mit Mattes sein könnte, in diesem behaglichen und zugleich fesseln den Raum. Sie müssten sich nur mit ihren Gläsern auf das Sofa setzen und sich von Feuer und Wein wärmen lassen, während sie von einem Thema zum nächsten wechselten. Denn obwohl Mattes durchaus den Eindruck machte, ein eher zurückhaltender Mann zu sein, reizte sie ihn offenbar zum Reden. Und sie wünschte sich, mehr über ihn zu erfahren, weiter auszuloten, was sie miteinander verband und was sie trennte, unabhängig davon, dass diese Vorstellung sie auch gleichzeitig erschreckte. Erst vor einigen Wochen hatte sie nicht bloß festgestellt, dass ihre Beziehung zu Erik eine Lüge war. Sie hatte auch nach wie vor keinen Plan dazu in Aussicht, wie sie ihr Leben gestalten wollte, sobald die Reise mit Arjen vorbei war. Wie sollte in dieses Chaos ein neuer Mann passen? Vorausgesetzt natürlich, dass Mattes tatsächlich ein Interesse an ihr hegte. Denn lediglich als spannende Abwechslung, jemand, der ihr den Bruch mit Erik versüßte, sah sie Mattes Ennenhof nicht. Schon möglich, dass eine Affäre genau das war, was sie in ihrer Situation gebrauchen konnte, aber darauf würde sich dieser Mann mit seinen ernsten graublauen Augen nicht einlassen. Sobald Mattes feststellte, dass Beekensiel nur eine Zwischenstation für sie war, würde er sich abwenden. In dieser Hinsicht konnte sie sich genauso wenig vormachen wie hinsichtlich der Anziehungskraft, die zwischen ihnen herrschte.
Wenn wir mehr Zeit füreinander hätten, würde ich schon bald herausfinden, warum er ausgerechnet den schwermütigen Fado liebt und am Abend über einem Skizzenblock sitzt, anstatt mit den anderen Beekensielern Karten zu spielen , gestand sie sich ein . Aber diese Zeit hatte sie nicht, denn sobald Arjen wieder einigermaßen hergestellt und die Geschichte zu Ende erzählt war, würden sie abreisen. Und egal was sie ihrem Großvater gegenüber behauptet hatte, so stand keineswegs fest, ob sie überhaupt noch einmal nach Beekensiel zurückkehren würden. Und Greta fühlte, dass ihr der Mut fehlte, sich auf Mattes einzulassen und möglicherweise etwas herauszufinden, was sie nur vor neue Probleme stellte.
»Mein Großvater hat sich im Sommer 1939 hier auf der Insel mit einem zwölfjährigen Ausreißer angefreundet, der sich
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