Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
den Familienklüngel zu unterstützen – darin war meine Mutter rigoros. Ich war noch zu klein, um diese Auseinandersetzungen mitzubekommen, aber am Ende verließ meine Mutter Beekensiel – ohne mich.« Mattes verstummte, und Greta wollte lieber ihm die Entscheidung überlassen, mehr über seine Mutter zu erzählen. Nach einem Schluck Wein entschied er sich jedoch anders. »Das war nun eine ziemlich weitschweifige Erklärung dafür, warum ein solcher Wälzer bei mir im Regal steht. Nicht, dass du mich noch für einen verkappten Intellektuellen hältst … Obwohl das vermutlich ganz nach deinem Geschmack wäre, oder?«
»Ehrlichkeit ist mir wichtiger«, gab Greta zurück. »Und ich bin mir gerade sehr unsicher, ob man sich von seinem Geschmack oder von seinen Ideen überhaupt reinreden lassen sollte, ob man einen Menschen mag.«
Der Satz stand zwischen ihnen und verlockte dazu weiterzureden, nachzuhaken, sich noch besser kennenzulernen … Bis Greta mit den Fingerknöcheln auf den Buchdeckel klopfte. »Willst du nachschlagen, ob wir hier etwas zu den Verschleppungen im Frühsommer 1938 finden?«
Mattes nickte und begann, in dem Buch zu blättern und schließlich zu lesen, als er die entsprechende Stelle gefunden hatte. »Die Verschleppungen in die Konzentrationslager werden in vier verschiedene Phasen unterteilt. Schau«, er deutete auf einen Absatz, und Greta musste näher an ihn heranrutschen, um die dicht stehenden Zeilen überfliegen zu können. »Von April bis Juni 1938 gab es zwei Verhaftungswellen, bei denen über 10 000 sogenannte Asoziale im Rahmen der Aktion ›Arbeitsscheu Reich‹ verschleppt wurden. Wäre das ein Anhaltspunkt?«
Greta musste hart schlucken. »Es passt erstaunlich gut, wenn man diese Folie über die Geschichte legt, die Ruben erzählt hat.« Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich. Wahrscheinlich hat Ruben ein wenig geflunkert, aber es war nicht alles erlogen. Der Walfischknochen – so etwas kann sich ein Zwölfjähriger nicht ausdenken, oder? »Rubens Vater könnte ein Lebenskünstler gewesen sein, der als arbeitsscheu verschrien war. Jemand, der mit seinem Sohn durch die Lande zieht und der seinen unsteten, vermutlich durch Entbehrungen gezeichneten Alltag durch Geschichten verschönert, in denen alles ein großes Abenteuer ist. Diese Einstellung hat Ruben später nicht nur übernommen, er wusste auch ziemlich gut darüber Bescheid, wie man sich durchschlägt, und machte zugleich einen gebildeten Eindruck. Er hat behauptet, sein Vater sei Historiker gewesen, und vielleicht hat das sogar gestimmt. Es würde wohl wenig Sinn machen, die Namenslisten der damals Verschleppten durchzusehen …?«
»Lass uns die Theorie im Hinterkopf behalten und erst einmal herausfinden, welche Spuren es vielleicht noch hier auf der Insel gibt«, schlug Mattes vor.
»Es gab eine heruntergekommene Fischerkate am Nordstrand, bei der die Jungs sich herumgetrieben haben, aber die ist später ausgebrannt. Was wäre da sonst noch … Peer Hinrichs’ Hütte!« Greta haute vor Begeisterung mit der flachen Hand auf den Tisch und riss Fado aus seinen Träumen. Brummend verzog sich der Labrador vors Kaminfeuer. »Ruben war bei einem Fischer namens Hinrichs untergekommen, der inmitten eines Birkenwäldchens hauste. Nach diesem Unterschlupf wollte ich ohnehin mal Ausschau halten.«
»Birkenwäldchen?« Nachdenklich zeichnete Mattes Beekensiels Umriss auf die leere Seite des Notizblocks, dann kreiste er drei Gebiete ein. »Das hier sind die einzigen Birkenwälder auf der Insel, aber ich könnte mir vorstellen, welchen dieser Hinrichs als Unterschlupf bevorzugt hat. Morgen ist Sonntag, da habe ich frei. Was hältst du davon, wenn wir morgen Vormittag einen Waldspaziergang machen?«
»Eine großartige Idee.«
»Dann kannst du Fotos von der Umgebung machen, und wenn dir dein Großvater davor noch die Hütte beschreibt, könnten wir eine Zeichnung davon anfertigen, sodass sich beides zusammenfügt.«
»Und wer würde sich an diese Zeichnung machen? Ich habe ein paar Skizzen ins Notizbuch eingefügt, aber da hatte ich jedes Mal etwas, das ich direkt abzeichnen konnte, weiter reichen meine Künste leider nicht.«
»Ich könnte das probieren, obwohl ich gleich sagen muss, dass ich nicht gut im Zeichnen bin, also künstlerisch gesehen. Dafür kann ich Häuser und Räume skizzieren, die bislang nur in meiner Vorstellung existieren – so wie Architekten es tun.«
Greta kam der Skizzenblock in den Sinn. Sie spielte
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