Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
ihre restlichen Sachen zusammenzupacken. »Sie bleiben hier, weil hier Gretas Zuhause ist. Sobald sie wieder zur Vernunft gekommen ist und sich nicht länger weigert, meine Entschuldigung anzuhören, wird sie zurückkehren, da bin ich mir sicher«, hatte er Anette am Telefon erklärt. Greta wusste gar nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte: darüber, dass Erik zu glauben schien, dass sie ihre Beziehung wie einen Handel wieder aufnehmen konnten, sobald sie ein paar Dinge zurechtgerückt hatten – oder über ihre Mutter, die sich Eriks Rechtfertigungen offenbar ausführlich anhörte. »Er ist so schrecklich unglücklich darüber, wie ihr auseinandergegangen seid. Du hast ihm allem Anschein nach nicht die geringste Chance gegeben, sich zu erklären.« »Weil eine Lüge eine Lüge ist, da gibt es nichts zu erklären!«, hatte Greta ihr wütend entgegnet und den Hörer an Arjen weitergereicht, bevor sie sich dazu hinreißen ließ, Anette an ihrem eigenen Beispiel zu erklären, was eine Lebenslüge war – z. B. die eigene Zuneigung zu Thomas Roder zu leugnen, damit sie mehr Zeit dazu hatte, sich in das Privatleben ihrer erwachsenen Tochter einzumischen. Greta merkte, dass sie sogar jetzt noch mit den Zähnen knirschte, wenn sie bloß an dieses Gespräch dachte. Dass Anette es einfach nicht bleiben lassen konnte.
Als Greta jedoch die Melkaustraße 4 in unmittelbarer Nähe zum Hafen gefunden hatte, vergaß sie ihren Ärger genauso umgehend, wie ihr der kalte Wind schlagartig nichts mehr ausmachte. Stattdessen lockerte sie ihren Kragen, so heiß war ihr. Das Haus, in dem Mattes mit seiner Großmutter Adele lebte, war ein altehrwürdiges Bauwerk mit einer durch die Jahre dunkel gewordenen Klinkerfassade, dessen Parterre aus einem Ladenlokal bestand. Im schwachen Licht der Laternen schimmerte hinter dem Fenster eine Edelstahltheke, und die Wände waren bedeckt von Regalen, bestückt mit nostalgisch aufgemachter Ware – Labskaus im Einweckglas und Holzkästchen mit Sprotten. Ein schöner Fischladen, so viel stand fest. Nur blieb die Frage, wer die Ware kaufen sollte, wenn es kaum Touristen auf die Insel verschlug und in jedem Beekensieler ein Hobbyfischer steckte.
Greta trat einige Schritte auf dem Gehweg zurück und legte den Kopf in den Nacken. Zu ihrer Enttäuschung war keines der Fenster in den beiden oberen Stockwerken erleuchtet. Wen wunderte es auch, dass Mattes Ennenhof an einem Samstagabend unterwegs war? Vermutlich war er, wie die anderen Beekensieler auch, auf ein Bier oder zum Abendessen verabredet.
Mit einem Seufzen trat Greta vor die seitlich neben dem Fischladen gelegene Eingangstür und betrachtete die Schilder neben den Klingelknöpfen. Neben dem einen stand »A. Ennenhof«, neben dem anderen »M. Ennenhof« – Mattes und seine Großmutter lebten offenbar in zwei getrennten Wohnungen, so musste sie zumindest keine Angst haben, die alte Dame aus dem Bett zu läuten.
Greta war mit den Gedanken bereits bei ihrem Rückweg durch Dunkelheit und Sturm, als sie die Klingel drückte. Nach einer kurzen Wartezeit wollte sie sich bereits zum Gehen abwenden, als plötzlich der Summer erklang. Vollkommen perplex spürte sie die vibrierende Tür unter ihren Händen und drückte sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor der Summer wieder verstummte. Jemand hatte vorsorglich das Licht im Treppenhaus angemacht, sonst wäre sie vermutlich durchs Dunkel gestolpert, zu verblüfft, um nach einem Lichtschalter Ausschau zu halten. Sie nahm die ausgetretenen Holzstufen viel zu hastig, lief an einer verschlossenen Wohnungstür vorbei, stieg ein halbes Stock werk höher und stand schließlich vor Mattes Ennenhof. Lediglich mit einem dunklen Shirt und zerschlissenen Jeans bekleidet stand er im Türrahmen und blickte sie erstaunt an.
»Guten Abend«, brachte Greta atemlos hervor.
Mattes runzelte die Stirn. »Moin. Hat dich jemand verfolgt?«
»Nein, natürlich nicht.« Greta wedelte sich Luft zu. »Das hier ist Beekensiel und nicht New York, es ist nur … Ich habe nicht damit gerechnet, dass du da bist. Ganz Beekensiel tummelt sich heute außer Haus.«
»Und deshalb bist du durch den Herbststurm zu meinem Haus gekommen und hast geklingelt?«
Zu ihrem Elend musste Greta sich eingestehen, dass ihre Erklärung durchaus seltsam anmutete. Ratlos hob sie die Schultern. »Es lag eher daran, dass sämtliche Fenster in diesem Haus dunkel waren …«
»Ach, deshalb. Meine Großmutter wohnt in der Maisonettewohnung und ist
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