Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
kannst du jeden von den älteren Semestern fragen, sie werden dir alle bestätigen, dass ich in vielerlei Hinsicht nach meiner Mutter schlage: Ich habe ihren Dickkopf genauso geerbt wie ihre etwas seltsame Nase. Womit ich dann ja wohl ein waschechter Ennenhof bin. Kannst du damit leben?«
Greta lachte. »Ich werde mich bemühen.«
»Gut, dann kreide ich dir auch nicht länger an, wie eine Wahnsinnige Auto zu fahren und deine Opfer hinterher auch noch zu beschimpfen.« Mattes rieb seine behandschuhten Hände aneinander, um die Kälte zu vertreiben, die klamm in der Luft lag. »Übrigens konnte sich meine Großmutter nicht an einen kleinen Ausreißer erinnern, den Hinrichs bei sich beherbergt hat. Damals war Adele nur sporadisch auf der Insel gewesen, ihre Eltern hatten sie auf ein Internat geschickt, und die Sommerferien verbrachte sie überwiegend bei einer Tante in Hamburg, die ihr ein wenig Lebensart beibringen sollte. Offenbar hoffte man, sie in die bessere Gesellschaft zu verheiraten, ihr Vater Jörg war in dieser – und in so manch anderer – Hinsicht ausgesprochen ehrgeizig. Adeles Familie stand vor dem Krieg kurz vor dem Sprung ins Großbürgertum. Ihr Vater war ein angesehener Rechtsanwalt in Aurich, aber die Bomben haben seinem Streben ein Ende gesetzt, und er hat sich dann wieder auf seine Heimatinsel Beekensiel konzentriert, war sogar einige Jahre Bürgermeister. Trotzdem kann ich mir durchaus vorstellen, dass es dem alten Claußen nicht leichtgefallen ist, seine einzige Tochter an einen Beekensieler Fischer zu verheiraten, auch wenn dessen Familie ihm in sein Amt verholfen hat und auf der Insel damals die erste Geige spielte.«
Es gelang Greta nicht recht, Mitleid für die zerschlagenen Großbürgerträume der Familie Claußen aufzubringen, schließlich waren während der Nazi-Herrschaft und im Krieg ganz andere Hoffnungen und Wünsche zerschlagen worden. Adele Claußen war noch glimpflich davongekommen: Sie hatte weder ein enges Familienmitglied verloren, noch hatte sie in der Nachkriegszeit ein entbehrungsreiches Leben geführt. Mattes schien das ganz ähnlich einzuschätzen, denn er zuckte mit den Achseln.
»Jedenfalls meinte meine Großmutter, die Geschichte mit dem Jungen passe zu dem Ende, das Hinrichs gefunden hat: Man beschuldigte ihn, kleine Jungen zu verführen, angeblich würde er mit ihnen in den Wald gehen, auch wenn niemand genau wusste, wohin. Namen sind in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit wohl keine gefallen, und es hat erst recht keine ordentliche Anklage gegeben. Aber als Hinrichs sich angetrunken auf dem Marktplatz blicken ließ, hat der führende NSDAP ler, Fred Denneburg, ihn mit viel Theater festgesetzt und an den Wachtmeister der Ordnungspolizei übergeben. Es gab Gerüchte, die Gestapo hätte sich seiner angenommen, jedenfalls sah man Peer Hinrichs auf Beekensiel nie wieder.«
Säure breitete sich in Gretas Magen aus. Auch wenn es niemand mit Sicherheit sagen konnte, so war Peer Hinrichs sicherlich ein Opfer der NS -Tyrannei geworden, die nicht nur diejenigen ablehnte, die nicht in ihr System passten, sondern sie systematisch vernichtete. So gesehen hatte sich Rubens Schicksal auf Beekensiel ein zweites Mal wiederholt: Der Mann, der ihm Unterschlupf gewährt hatte, endete in den Fängen des Regimes. Ob Arjen wohl darüber Bescheid wusste, oder war diese Geschichte vielleicht nicht bis an das Ohr des Pastorensohns vorgedrungen?
Ihren Gedanken nachhängend, wanderte sie mit Mattes durch Nebelfetzen, die sich zwischen den von Stürmen gebogenen Baumstämmen verfangen hatten und die selbst die Helligkeit des anbrechenden Vormittags nicht vertreiben konnte. Der Birkenwald war dank des niedrigen Baumwuchses licht, und vereinzelte Blätter rieselten durch die milchige Luft. Auf dem Dünengras sammelten sich Tropfen, ein paar späte Pilzköpfe schauten hervor, und bei jedem Schritt knackte Gehölz, das sich in dem dichten Teppich verfangen hatte. Wie aus weiter Ferne ertönten Möwenschreie. Dem Wald haftete etwas Unwirkliches an und verlieh Greta das Gefühl, sich außerhalb der Zeit zu befinden.
»Die Festlandseite der Insel hat eindeutig ihre Vorzüge, aber ich treibe mich lieber auf der Meerseite herum«, begann Mattes unvermittelt zu erzählen. »Natürlich macht der freie Blick auf den Horizont viel aus, die Verbindung, die das Meer mit dem Himmel eingeht. Adele würde dafür sterben. Bei mir ist es jedoch noch etwas anderes … Alles zusammen sozusagen. Ich mag
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