Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
es, wie sich der nasse Sand unter den Füßen anfühlt, das Rillenmuster des Watts, seine Grautöne. Wie der Strand einen ganz eigenen Pfad bildet und wie die Dünen sich erheben. Es gibt viele beeindruckende Orte auf der Welt, aber dieser hier ist meiner.« Für einen Moment schwieg Mattes. Dann fügte er hinzu: »Das klingt ganz schön dramatisch, oder? Dabei bin ich normalerweise gar nicht so dramatisch veranlagt.« Er grinste verlegen. »Außerdem gibt es in den Dünen Sanddornbüsche, und diese Beeren sind wirklich das Leckerste, das es gibt.«
Greta schmunzelte. »Ich kenne noch jemanden, der eine Schwäche für Sanddorn hatte.« Das Lachen blieb ihr fast im Hals stecken, als ihr bewusst wurde, zu wem sie einen Vergleich gezogen hatte: zu dem Jungen, nach dessen Spuren sie gerade suchten – Ruben. »Dieser Wald ist voller Geister.«
»Wenn dem so ist, dann haben sie uns gerade zu ihrem Versteck geführt.«
Verwirrt blickte Greta sich um, dann begriff sie, dass sie inmitten einer Lichtung standen. Am Rand, fast überwuchert vom Grün, entdeckte sie die erhofften Mauerwerkreste. Fast andächtig berührte sie die bemoosten Steine, während Mattes sich einen Baumstumpf zum Hinsetzen suchte und einen Block samt Stift hervorholte. Fado legte sich zu seinen Füßen, einen Stock als Beute im Maul haltend. Als der Hund den Stock genüsslich zu zerkauen begann, hatte Mattes bereits die ersten Striche gezogen. Greta begann jedoch nicht, wie geplant, Fotos von der Lichtung zu machen, sondern schob Dünengras beiseite und drang in den kleinen Raum vor, der vom Verschlag noch erhalten geblieben war. Ruben hatte Pirat geliebt, sein Essen mit ihm geteilt und mit seiner Begeisterung den ängstlichen Arjen so weit angesteckt, dass er den Hund gegen den Willen seines Vaters zu sich genommen hatte.
Einem Hund kann man bedingungslos vertrauen, hat Ruben gesagt.
In diesem Moment wurde Greta in den Rücken gestupst. Sie kippte vor Schreck nach vorne und versuchte, Halt an den Mauerresten zu finden, die jedoch sofort nachgaben und ihr in den Handballen schnitten. Unter ihren Händen zerbröselte das letzte Zeugnis für Peer Hinrichs’ Existenz. Während Greta fluchend versuchte, sich wieder aufzurichten, stupste Fado sie unbeeindruckt mit seinem Stock an. »Nicht jetzt«, brummte sie ihn an und blickte auf das Chaos, das sie angerichtet hatte. Sie war umringt von Backstein- und Mörtelbrocken, während sich in ihrem Handballen ein scheußlicher Schmerz ausbreitete. Doch sie vergaß die Verletzung sofort, als ihr Blick auf ein Stück Messing fiel, das zwischen den Überresten der Mauer herausragte. Mattes war mittlerweile bei ihr angekommen und wollte ihr gerade hochhelfen, da sah er es auch. Es war die Ecke einer Schnupftabakdose, die jemand zwischen den Steinen versteckt hatte. Ihren Deckel zierte ein schlichtes Kreuz. Als Greta an ihr rüttelte, erklang im Inneren der Dose ein Klacken.
»Mumifizierter Tabak?«, mutmaßte Mattes nicht ganz ernsthaft.
Mit einigen Mühen öffnete Greta den verrosteten Deckel und brachte eine Filmpatrone zutage. Sie wusste sofort, was sie vor sich hatten und was sie auf den Negativbildern finden würden: zwei Jungen, die sich nach einem gelungenen Streich gegenseitig fotografierten – und ein Stück Walfischknochen, das geschnitzte Muster zierten. Den endgültigen Beweis dafür, dass sowohl Ruben als auch der mysteriöse Talisman existiert hatten.
20
»Und du bist dir sicher, dass du nicht schnell noch mit mir zu Mittag essen möchtest? Unser Ausflug in den Birkenwald hat dich doch sicher auch hungrig gemacht.«
Sie waren nach einem raschen Fußmarsch durch die Kälte wieder beim Sturmwind angekommen. Obwohl Mattes die Frage wie nebenbei stellte, entging Greta keinesfalls das hoffnungsvolle Aufblitzen in seinen Augen. Allein deshalb hätte sie am liebsten sofort ihre Meinung geändert, doch es war an der Zeit, nach Arjen zu sehen und sich darum zu kümmern, dass er etwas aß. Denn im Gegensatz zu Greta lief ihr Großvater ernsthaft Gefahr, vor Entkräftung zusammenzubrechen. »Ein anderes Mal gern, außerdem hast du ja auch noch etwas zu tun.« Sie deutete auf Mattes’ Jackentasche, in der die Negative steckten. Da es auf Beekensiel keine Möglichkeit gab, Abzüge machen zu lassen, wollte er den Film in Aurich abgeben, wo er sich ohnehin mit einem Freund treffen wollte. Greta konnte es kaum erwarten, die Bilder zu sehen, die Ruben und Arjen in jenem Sommer gemacht hatten, dessen Einfluss
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