Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Lobeshymnen auf ihren Neffen überschüttet, während sie das Frühstückstablett für Arjen zusammenstellte. Vermutlich waren sie selbst auf dem Marktplatz nicht sicher vor neugierigen Blicken, denn sicherlich wohnte in jedem zweiten Haus ein guter Bekannter von Trude. Während Fado sie so stürmisch begrüßte, als hätten sie sich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, lächelte Mattes sie nur freundlich an. Egal wie verbunden wir uns nach dem gestrigen Abend fühlen, Mattes ist eben ein typisches Nordlicht und sehr zurückhaltend. In dieser Hinsicht sind wir einander nicht unähnlich , stellte sie belustigt fest, denn schließlich hatte sie ihre Hände in den Jackentaschen gelassen, um ja nicht aufdringlich zu wirken.
»Moin! Heute ist der perfekte Tag für einen Spaziergang, vor allem wenn man sich eine Spur verkatert fühlt«, begrüßte Mattes sie mit einem vergnügten Augenblitzen.
Zwar fühlte sich Greta energiegeladen, aber ihre Augen waren trotzdem verräterisch verquollen. »Ich weiß schon, warum ich für gewöhnlich keinen Rotwein trinke: Erst hat man eine leichte Zunge und dann einen schweren Kopf.«
Mattes nickte wissend, dann deutete er auf den Fotoapparat, der über ihre Schulter hing. »Meinst du, wir werden das Versteck schon heute finden?«
Ohne viele Umwege berichtete Greta von ihrer Unterhaltung mit Arjen, während sie eine Unruhe in sich aufsteigen fühlte, von der sie nicht wusste, woher sie genau stammte. Sie wollte losgehen, sich bewegen, um diese Beklemmung abzustreifen.
»Im Birkenwald, der zum Festland geht, lag das Versteck von diesem Hinrichs also.« Mattes zog seine Mütze aus der Jackentasche, setzte sie jedoch nicht auf, sondern spielte mit ihr. »Habe ich mir schon fast gedacht, dort hat man seine Ruhe und kann problemlos ein kleines Boot verstecken, sodass man sich nicht unentwegt mit den Hafenwärtern herumschlagen muss.«
»Ich habe noch einen weiteren Anhaltspunkt.« Mit klammen Fingern holte sie Arjens Aufnahme hervor und zeigte sie Mattes. »Das ist mein Großvater als Kind, aber in unserem Fall ist der Hintergrund vielleicht nützlich, denn er zeigt die Hütte, in der Peer Hinrichs mit Ruben gehaust hat.«
Aufmerksam musterte Mattes die alte Fotografie. »Es ist nicht viel zu erkennen, aber ich würde darauf tippen, dass die Hütte aus Holz war. Gut möglich, dass bereits alles verrottet ist, aber dieser Anbau hier … Das sieht nach Mauerwerk aus. Was könnte das sein?«
»Pirats Hundehütte«, flüsterte Greta. »Wenn auch sonst alles Zeit und Witterung zum Opfer gefallen ist, die Mauer müsste noch stehen.«
»Das ist tatsächlich ein Anhaltspunkt.« Mattes pfiff nach Fado, der sich gerade mit zwei Terriern balgte. »Dann mal los, das Wäldchen liegt nämlich einen ordentlichen Fußmarsch entfernt.«
Schweigend liefen sie durch den milchigen Dunst, der alles wie eine Haube überdeckte: die »Moin«s der Spaziergänger, die ihnen begegneten, die Umrisse der Häuser, die wenigen Lichtstreifen, die einen Weg durch die Wolkendecke fanden. Sogar das Meeresrauschen klang gedämpft, obwohl kräftiger Seegang herrschen musste. Sobald sie den Ort verließen, gehörte der Weg ihnen allein. Fast kam es Greta so vor, als mieden die Beekensieler die Teile der Insel, die sich nicht in der unmittelbaren Nähe ihres Dorfes befanden – bis auf Mattes, der offenbar gern umherstromerte und stets zielsicher einen Weg abseits der Straße fand. Doch diese Beobachtung behielt Greta für sich, denn sie wollte das Schweigen nicht brechen.
Mit Mattes an der Seite durch den Nebel zu wandern, kam Greta seltsam vor: vertraut und verstörend zugleich. Wie konnte sie sich in der Nähe eines Menschen, den sie kaum kannte, so geborgen fühlen? Mit Erik hatte sie Jahre verbracht, ohne die Distanz zwischen ihnen zu überwinden, und bis zum Schluss war er ihr in vielerlei Hinsicht ein Rätsel geblieben. Nicht dass es sie verwundert hätte, sie führte es darauf zurück, dass ihnen zu einem Gefühl der Verbundenheit schlicht noch ein paar gemeinsame Jahre fehlten. Erst jetzt, als der Saum des Birkenwalds auftauchte und Mattes sie verstohlen aus den Augenwinkeln betrachtete, während Fado eine Gruppe Dünenhasen aufscheuchte, begriff sie, dass sie vollkommen ahnungslos gewesen war. Mit einem Mal meldete sich eine innere Stimme, auf die sie während ihrer Zeit mit Erik ständig gewartet hatte. Nun flüsterte sie immer eindringlicher auf Greta ein. »Es passt … Warum auch immer«, wisperte die
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