Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Erinnerungen nach, die ihm einen bitteren Zug aufs Gesicht legten. Als Greta ihm das Frühstück ans Bett brachte, weigerte er sich zu essen – er habe keinerlei Appetit, beim besten Willen nicht.
»Bitte, wenigstens eine Kleinigkeit. Ich habe auch nicht die Zeit, auf dich einzureden, ich bin nämlich mit Mattes verabredet. Wir wollen nachschauen, ob von Peer Hinrichs’ Versteck im Birkenwald etwas zurückgeblieben ist. Spurenlese sozusagen. Ich werde Fotos machen, die kannst du dir dann später ansehen.«
»Sagte ich doch: Du bist gut im Verhandeln. Fein, dann esse ich eben das Ei und einen Toast mit Honig, damit du losziehen und diese verlockenden Fotos schießen kannst. Wer weiß, ob der Birkenwald noch steht nach den ganzen verheerenden Stürmen … Andererseits steht er in einer geschützten Lage zum Festland hin.« Schwerfällig setzte Arjen sich im Bett auf und strich sich über die mit Schweißperlen bedeckte Stirn. Als er Gretas besorgten Ausdruck bemerkte, lächelte er. »Der Gang ins Badezimmer vorhin war nicht unanstrengend. Wenn ich mir vorstelle, dass dieser geschwächte Zustand für mich schon bald alltäglich sein wird, möchte ich mir am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und nie wieder aufwachen.«
Diese Mutlosigkeit war schrecklich, und doch konnte man ihr nicht widersprechen, was sie besonders schwer zu ertragen machte. Ihrem Bauchgefühl folgend, holte Greta das Notizbuch hervor und schlug es bei der Skizze von Beekensiel auf, die Mattes gemacht hatte. Sie zeigte auf die eingekreiste Stelle, die am nächsten beim Festland lag.
»War Hinrichs’ Lager in diesem Birkenwald?«
»Ja, das ist die Stelle, das habt ihr beiden Detektive also bereits ausbaldowert. Wirklich clever, dieser junge Ennenhof.«
Als Arjen Anstalten machte, in dem Notizbuch zu blättern, schlug Greta es rasch zu. Es sollte zwar kein Geheimnis sein, aber sie wollte es ihm gern erst dann zeigen, wenn Rubens Geschichte zu Ende erzählt war. Die alte Fotografie von Arjen zog ihren Blick an. Jetzt da sie wusste, wie diese Aufnahme entstanden war, kam es ihr vor, als sähe sie sie zum ersten Mal. Es ist nicht das Sonnenlicht, wegen dem Arjen seine Augen beschattet , erkannte Greta. Es ist wegen Ruben, er ist seine ganz persönliche Sonne. Wie trist muss das Leben nach Rubens Verschwinden gewesen sein?
»Ich habe diese Aufnahme lange Zeit als Talisman mit mir herumgetragen, deshalb macht sie so einen mitgenommenen Eindruck«, gestand Arjen verschmitzt ein. »Schau auf die Rückseite.«
Mit gerunzelter Stirn nahm Greta das Foto heraus. Die Rückseite war stark vergilbt, sodass die geschriebenen Zeilen erst beim genauen Hinsehen zu erkennen waren. Verblichene Worte, unterzeichnet mit einem ›R‹. Als sie das Foto direkt unter die Leselampe bei Arjens Bett hielt, gelang es ihr endlich, die Sätze zu entziffern:
Als Erinnerung an einen Sommer voller Geheimnisse.
Unseren Sommer.
Dein Freund R.
»Die Zeilen können doch unmöglich von Ruben stam men, sie haben ihn doch kurz nach eurem Einstieg bei Fred Denneburg geschnappt und ins Kinderheim abgeschoben.« Um Gretas Brust legte sich ein Griff, der sie zwang, schnell und flach zu atmen. »Du hast ihn also ein zweites Mal gesehen … Wo? Wann?«
Doch ihre Fragen prallten an Arjen ab. Stattdessen drehte er die Fotografie zwischen ihren Fingern erneut um. »Das Wichtigste ist jetzt das Motiv, mein Kind. Siehst du den Hintergrund? Es ist die Lichtung von Peer Hinrichs’ Unterschlupf, möglicherweise hilft euch das bei der Suche weiter, denn von der Hütte dürfte kaum noch etwas übrig sein.«
Damit biss Arjen in seinen Toast und begann so entschlossen zu kauen, dass Greta wusste, dass sie jetzt nicht weiter zu ihm vordringen würde. Das Einzige, was ihr blieb, war, der ausgelegten Fährte zu folgen – obwohl sie der Gedanke daran, dass Arjen Ruben erneut getroffen hatte, nicht mehr losließ. Vermutlich wäre sie hartnäckig bei ihrem Großvater sitzen geblieben, wenn nicht eine ganz andere Art der Verlockung auf sie gewartet hätte. Ein Spaziergang mit Mattes Ennenhof war allerdings ein schlagendes Argument, also steckte sie die Fotografie behutsam in die Seite ihrer Fotoapparattasche und eilte los.
19
Mattes wartete mit Fado ein Stück abseits vom Sturmwind auf Greta. Ohne es auszusprechen, waren sie beide zu dem Entschluss gekommen, nicht zusätzliches Öl in Trudes Feuer zu gießen, indem er sie im Hotel abholte. Die redselige Dame hatte Greta ohnehin schon mit
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