Das Geheimnis des weißen Bandes
heruntergekommener Laden, der im Sonnenlicht fast noch schäbiger aussah als im Nebel. Ich überquerte die Straße und ging hinein.
Es war nur ein einziger Mann in der Saloon Bar, und das war nicht Sherlock Holmes. Zu meiner größten Überraschung und gleichzeitig zu meinem Schrecken erkannte ich vielmehr den beschränkten Krankenpfleger aus dem Zuchthaus in Holloway, der Dr. Trevelyan auf der Station assistiert hatte. Er trug zwar keine Uniform, aber sein leerer Gesichtsausdruck, seine tief eingesunkenen Augen und das wirre rote Haar waren unverkennbar. Er klammerte sich an ein Glas Stout und starrte stumpf vor sich hin.
»Mr. Rivers!«, rief ich erschrocken.
»Setzen Sie sich zu mir, Watson. Schön Sie zu sehen.«
Das war ja die Stimme von Holmes! Und im selben Augenblick begriff ich, wie er mich und die anderen getäuscht und seine Flucht aus dem Gefängnis direkt vor unseren Augen bewerkstelligt hatte. Ich gebe zu, dass ich vor Verblüffung fastohnmächtig auf den Stuhl sank, den er mir angeboten hatte, und mit einem Gefühl völliger Hilflosigkeit das wohlbekannte Lächeln unter der Perücke und der Schminke studierte. Denn das war das Besondere an seinen Verkleidungen: Er benutzte gar nicht übermäßig viele Hilfsmittel, sondern besaß die Fähigkeit, mit der dargestellten Person zu verschmelzen. Er versetzte sich so weit in das Wesen seiner Rolle hinein, dass er bis zum Augenblick der Enthüllung ganz eins mit ihr wurde. Er glaubte sich selbst, und deshalb glaubte man ihm. Es war ein bisschen wie bei einem Felsen oder einem Baumstumpf irgendwo in der Landschaft, den man so lange für ein geducktes Tier hält, bis man ganz dicht davorsteht. Danach würde man die beiden nie wieder verwechseln, aber bis dahin war die Illusion perfekt. Ich hatte mich zu Rivers an den Tisch gesetzt, aber jetzt wusste ich, dass ich bei Holmes war.
»Erzählen Sie –«, sagte ich.
Aber Holmes hob die Hand. »Alles zu seiner Zeit, mein Lieber«, sagte er. »Sagen Sie mir erst, ob Sie auf Ihrem Weg hierher beobachtet worden sind.«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Aber am Holborn Viaduct waren noch zwei Männer hinter Ihnen her. Wie es aussah, waren es Polizisten, die zweifellos im Dienst unseres Freundes, Inspektor Harriman, stehen.«
»Die habe ich nicht gesehen. Aber ich bin aus der Droschke meiner Frau gesprungen, als wir mitten auf dem Strand waren. Ich habe nicht gewartet, bis sie gestanden hat, und sie ist auch gleich weitergefahren. Dann habe ich mich hinter einem Landauer versteckt, bin auf die andere Straßenseite gegangen, und auf dem Weg hierher habe ich etliche kleine Umwege durch kleine Gassen gemacht. Ich sage Ihnen: Wenn jemand am Bahnhof bei mir gewesen ist, dann läuft er jetzt durch Kensington und fragt sich, wo ich wohl geblieben bin.«
Holmes lachte. »So kenne ich meinen Watson!«
»Aber woher wussten Sie, dass meine Frau heute ankommt? Wie sind Sie überhaupt zum Holborn Viaduct gekommen?«
»Das war die Einfachheit selbst. Ich bin Ihnen von der Baker Street aus gefolgt und habe mich im Gedränge am Bahnhof an Ihnen vorbeigeschoben.«
»Na schön, aber das ist nur die erste Frage. Und ich muss darauf bestehen, dass Sie mir in allen Punkten Auskunft geben, denn ich bin im Kopf schon ganz durcheinander, wenn ich Sie hier bloß sitzen sehe. Wie war das mit Dr. Trevelyan? Ich vermute, Sie haben ihn wiedererkannt und überredet, Ihnen zu helfen.«
»Genauso ist es gewesen. Es war ein glücklicher Zufall, dass unser früherer Klient jetzt eine Beschäftigung im Gefängnis gefunden hat, aber eigentlich finde ich, dass jeder ehrliche Arzt mir hätte helfen müssen, als klar wurde, dass die Absicht bestand, mich zu ermorden.«
»Sie wussten das?«
Holmes warf mir einen scharfen Blick zu, und ich merkte, dass ich jetzt aufpassen musste, wenn ich den heiligen Schwur nicht brechen wollte, den ich meinem geheimnisvollen nächtlichen Gastgeber vor zwei Tagen gegeben hatte.
»Damit hatte ich seit meiner Verhaftung gerechnet«, erklärte Holmes. »Es war mir klar, dass die Beweise gegen mich wahrscheinlich in sich zusammenbrechen würden, sobald ich sprechen durfte, und deshalb mussten meine Feinde das verhindern. Ich wartete auf einen Angriff und untersuchte vor allem meine Speisen sehr sorgfältig. Im Gegensatz zu dem, was die Allgemeinheit so glaubt, gibt es kaum ein Gift, das vollkommen geschmacklos ist. Und schon gar nicht das Arsen, mit dem sie mich erledigen wollten. Ich entdeckte es in einer Schüssel mit
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