Das Geheimnis des weißen Bandes
womöglich nicht da sein, wenn er tatsächlich das Risiko auf sich nahm, in die Baker Street zu kommen. Andererseits konnte ich auch Mary nicht ohne Begleitung in London herumfahren lassen. Eine ihrer größten Tugenden war ihre Geduld bei meinen langen Abwesenheiten, die den Abenteuern mit Sherlock Holmes geschuldet waren. Sie beklagte sich nie darüber, obwohl ich wusste, dass sie sich Sorgen machte. Ich würde ihr erklären müssen, warum ich noch eine Weile in der Baker Street bleiben musste, ehe wir dauerhaft wieder vereint wären. Außerdem hatte ich sie natürlich vermisst, und ich freute mich darauf, sie wiederzusehen.
Es war jetzt die zweite Dezemberwoche, und nach dem schlechten Wetter zu Beginn des Monats schien plötzlich die Sonne. Und obwohl es immer noch kalt war, herrschte in der ganzen Stadt eine äußerst vergnügte Stimmung. Die Bürgersteige quollen über von Familien aus der Provinz, vor lauter Gedränge konnte man kaum das Pflaster sehen. Allein die vielen Kinder, die sie mitgebracht hatten und die den Wohlstand Londons mit großen Augen bestaunten, hätten wohl ausgereicht, um mehrere kleine Städte in der Umgebung zu füllen. An den Kreuzungen boten die Eiskratzer und Straßenfeger ihre Dienste an, die Zuckerbäckereien waren festlich beleuchtet, die Luft war erfüllt vom Duft gebrannter Mandeln und gebratenen Hackfleischs, und überall wurde für Gänse-Clubs, Roastbeef-Clubs und Pudding-Clubs geworben. Als ich aus meiner Droschke stieg und mir durch die Menge meinen Weg in den Bahnhof bahnte, wurde mir bewusst, wie fremd die Aktivitäten all dieser Menschen für mich geworden waren, wie weit ich mich von den normalen Freuden der Vorweihnachtszeit entfernt hatte. Vielleicht war das der Preis, den ich für meine Verbindung mit Sherlock Holmes zahlte: Sie zog mich in die dunklen, abseitigen Winkel der Großstadt, die kein Mensch freiwillig aufsuchen würde.
Auch der Bahnhof schien förmlich überzuquellen. Die Züge waren pünktlich, und die Bahnsteige waren voller junger Männer und Frauen mit Päckchen und Körben, die so aufgeregt herumhüpften wie das Weiße Kaninchen bei Alice im Wunderland. Marys Zug war schon eingelaufen, und als die Türen der Abteile sich öffneten und noch mehr Menschen sich in die Metropole ergossen, konnte ich sie in der Menge zunächst nicht entdecken.
Dann sah ich sie aus ihrem Abteil steigen. Aber noch ehe ich sie erreichte, kam es zu einem Zwischenfall, der mich einen Moment lang beunruhigte: Ein Mann humpelte über den Bahnsteig, als ob er sie ansprechen wollte. Ich stand ziemlich weit hinter ihm, deshalb sah ich nur eine schlecht sitzende Jacke und rotes Haar. Er schien sogar etwas zu Mary zu sagen, dann stieg er in den Zug und verschwand damit aus meinem Gesichtsfeld. Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Als ich mich näherte, lächelte Mary mir zu, und dann lag sie in meinen Armen. Ich nahm ihr die Tasche ab und führte sie auf die Straße hinunter, wo ich dem Kutscher gesagt hatte, dass er auf uns warten solle.
Mary hatte mir viel zu erzählen. Mrs. Forrester war entzückt gewesen, sie wiederzusehen, und sie waren enge Freundinnen geworden. Richard, den Mary früher betreut hatte, war ein höflicher und wohlerzogener Junge, und nachdem er sich von seiner Krankheit erholt hatte, war er ein angenehmer Gesprächspartner. Außerdem war er ein begieriger Leser meiner Geschichten! Der Haushalt war noch genauso, wie sie ihn aus ihrer Zeit als Gouvernante in Erinnerung hatte, behaglich und einladend. Die Reise war ein voller Erfolg gewesen, abgesehen von einer leichten Heiserkeit und etwas Kopfweh, die sie in den letzten Tagen entwickelt hatte und die von der Bahnfahrt verschärft worden waren. Sie sah müde aus, und als ich nachfragte, gab sie zu, dass sie auch unter Gliederschmerzen litt. »Aber bitte, John, kein großes Tamtam. Nach einer Tasse Tee und ein bisschen Ruhe bin ich wieder die Alte. Und jetzt erzähl, was hier eigentlich los ist! Ich hab die wildesten Geschichten über Sherlock Holmes gelesen.«
Nachträglich habe ich mir natürlich die größten Vorwürfe gemacht, weil ich Mary nicht genauer untersuchte. Aber ich war innerlich mehr mit dem House of Silk beschäftigt, und sie hatte ja selbst so getan, als ob ihre Krankheit nur eine Kleinigkeit wäre. Außerdem dachte ich an den fremden Mann, der sich Mary genähert hatte. Es ist durchaus möglich, dass ich auch dann nichts hätte tun können, wenn ich die richtige Diagnose gestellt hätte.
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