Das Geheimnis des weißen Bandes
verlor sich. »Aber jetzt ist es zu spät. Der Junge hätte Chorley Grange nie verlassen dürfen. Ich wusste, das würde kein gutes Ende nehmen.«
»Um was für einen Hinweis handelt es sich denn?«, fragte ich.
»Ich habe es bei mir. Wie gesagt, meine Frau hat es im Schlafsaal gefunden. Sie hat die Matratzen gewendet. Das machen wir jeden Monat. Die Matratzen werden gelüftet und mit Rauch desinfiziert. Manche von den Jungs haben Läuse, und wir müssen ständig dagegen ankämpfen. Das Bett, in dem Ross geschlafen hat, wird jetzt von einem anderen Kind benutzt, aber wir haben dieses Schulheft darin gefunden. Es war gut versteckt.« Fitzsimmons zog ein dünnes, verblichenes Heft aus der Tasche, dessen rauer Umschlag abgeschabt und zerknickt war. Auf dem Etikett auf der Vorderseite stand in kindlicher Handschrift:
»Als er zu uns kam, konnte Ross weder lesen noch schreiben, aber wir haben uns große Mühe gegeben, ihm die Grundlagen beizubringen. Jedes Kind in der Schule erhält ein eigenes Heft und einen Bleistift. Sie werden sehen, dass er seine Übungenbald aufgegeben hat. Es ist eine ziemliche Schmiererei, aber offenbar hat er einen großen Teil seiner Zeit damit zugebracht, das Heft vollzukritzeln. Aber wir haben noch etwas anderes gefunden, und das schien uns irgendwie wichtig.«
Er schlug das Heft in der Mitte auf und zeigte mir ein säuberlich zusammengefaltetes Blatt. Er nahm es heraus, entfaltete es und legte es auf den Tisch. Es war ein billiges Reklameflugblatt für eine Monstrositäten-Schau, von denen es früher auch in Islington und Cheapside eine ganze Menge gegeben hat, die jetzt aber selten geworden sind. Der Text war mit den Abbildungen einer Riesenschlange, eines Gürteltiers und eines Schimpansen verziert. Er lautete:
DR. SILKIN’S HOUSE OF WONDERS
J ONGLEURE, L ILIPUTANER
D IE D ICKE D AME & D AS L EBENDE S KELETT
Ein Kuriositätenkabinett aus den vier Ecken der Welt
Eintritt: Ein Penny
Jackdaw Lane, Whitechapel
»Natürlich würde ich meinen Jungen verbieten, jemals so ein Etablissement aufzusuchen«, sagte der Reverend. »Freak Shows, Tingeltangel, Moritatenbühnen – es wundert mich, dass eine stolze Stadt wie London diese vulgären, unnatürlichen Vergnügungen duldet. Haben die Leute aus dem Schicksal von Sodom und Gomorra denn nichts gelernt? Ross wusste genau, dass ich so etwas nicht dulde, und ich denke, das ist auch der Grund, Dr. Watson, weshalb er dieses Blättchen versteckt hat. Es widerspricht allem, wofür Chorley Grange steht. Vielleicht war es geradezu eine Trotzhandlung. Er war ein ziemlich widerspenstiger Bursche, das hat Ihnen meine Frau ja erzählt –«
»Es kann aber auch eine ganz konkrete Bedeutung für ihngehabt haben«, unterbrach ich ihn. »Nachdem er Sie verlassen hat, war er bei einer Familie in King’s Cross und bei seiner Schwester. Aber wir haben keine Ahnung, wo er sonst noch gewesen ist. Vielleicht hat er sich mit diesen Leuten herumgetrieben.«
»Genau. Deshalb dachte ich, dass man es untersuchen muss, und habe es Ihnen gebracht.« Fitzsimmons suchte seine Sachen zusammen und stand mühsam auf. »Besteht irgendeine Aussicht, dass Sie mit Mr. Holmes in Kontakt treten?«
»Ich hoffe sehr, dass er sich auf irgendeine Weise mit mir in Verbindung setzt.«
»Dann werden Sie ja sehen, was er davon hält. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Dr. Watson. Das mit Ross tut mir wirklich sehr, sehr leid. Wir werden am Sonntag beim Gottesdienst in unserer kleinen Kapelle für ihn beten. Nein, Sie brauchen mich nicht hinausbringen. Ich finde den Weg.«
Er griff nach seinem Hut, Mantel und Schal und ging hinaus. Ich starrte das kleine Flugblatt mit den verschnörkelten Buchstaben und den kitschigen, sensationsheischenden Bildchen an. Ich glaube, ich muss es zwei, drei Mal gelesen haben, ehe ich entdeckte, was mir von Anfang an hätte auffallen sollen. Aber es war sonnenklar. Dr. Silkin’s House of Wonders. Jackdaw Lane. Whitechapel.
Ich hatte gerade das House of Silk gefunden.
17
Eine Botschaft
Am nächsten Tag kam meine liebe Frau nach London zurück. Sie hatte mir aus Camberwell ein Telegramm geschickt, um ihre Ankunft anzukündigen, und als ihr Zug am Holborn Viaduct einfuhr, stand ich am Bahnsteig bereit. Ich muss sagen, dass ich Baker Street aus keinem anderen Grund verlassen hätte. Ich war immer noch überzeugt, dass Holmes versuchen würde, Kontakt mit mir aufzunehmen, und mir schauderte bei dem Gedanken, ich könnte
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