Das Geheimnis des weißen Bandes
Arzt?«, fragte sie.
»Ja.«
»Und glücklich verheiratet. Keine Kinder.«
»Sie haben in allen Punkten recht.«
»Sie haben kürzlich eine schmerzliche Trennung erfahren.« Meinte sie damit den Aufenthalt meiner Frau in Camberwell oder die Inhaftierung von Holmes? Und woher konnte sie davon wissen? Ich bin schon immer ein Skeptiker gewesen, damals wie heute. Wie denn anders? Im Verlauf meiner Abenteuer mit Holmes war ich einer Riesenratte, einem Vampir und einem Fluch begegnet, der angeblich auf einer Familie lastete. Und für alle diese verblüffenden Phänomene gab es am Ende immer eine völlig rationale Erklärung. Ich wartete also nur darauf, dass mir die Zigeunerin die Quelle ihrer Tricks verriet. Aber stattdessen kam es ganz anders.
»Sind Sie allein hierhergekommen?«, fragte sie.
»Nein, ich habe einen Freund bei mir.«
»Dann habe ich eine Nachricht für Sie. Wahrscheinlich haben Sie den Schießstand bemerkt, der sich in dem Gebäude hinter meinem Wagen befindet.«
»Ja.«
»Sie werden alle Antworten, die Sie suchen, in den Räumen finden, die über dem Schießstand liegen. Aber seien Sie vorsichtig, wohin Sie Ihre Schritte setzen, Doktor. Das Gebäude wird bald abgerissen, und die Bodenbretter sind morsch. Sie haben eine lange Lebenslinie, sehen Sie? Hier! Aber es gibt ein paar Schwächen. Diese Falten … sind wie Pfeile, die man auf Sie abschießt. Und es kommen noch viele. Sie sollten aufpassen, damit nicht einer von ihnen …«
»Besten Dank.« Ich riss meine Hand zurück, als hätte ich in einen Ofen gegriffen. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Frau, und ihr Verhalten flößte mir Angst ein. Vielleicht war es die Dunkelheit mit all den scharlachroten Schatten, die mich umgaben, vielleicht betäubte die ständige Kakophonie – die Musik und das Getöse der Menge – meine Sinne. Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass dieser Rummelplatz ein sehr böser Ort war und dass wir nie hätten herkommen dürfen. Ich kletterte vom Podium herunter, suchte nach Holmes und erzählte ihm, was passiert war.
»Werden wir jetzt schon von Wahrsagerinnen herumgeschickt?«, war seine schroffe Antwort auf meine Geschichte. »Nun, Watson, die Sache ist alternativlos. Wir müssen das durchstehen.«
Wir kamen an einem Mann vorbei, der einen Affen auf seiner Schulter trug, und an einem anderen, der bis zum Gürtel nackt und völlig mit Tätowierungen bedeckt war, die er äußerst lebendig erscheinen ließ, indem er mal den einen und mal den anderen Muskel anspannte. Dann lag der Schießstand vor uns, neben dem eine schmale Stiege nach oben führte. Eine Salve von Gewehrschüssen knallte. Eine Gruppe von Lehrburschen versuchte ihr Glück mit den Flaschen, aber sie hatten offensichtlich getrunken, und ihre Kugeln bohrten sich ins Dunkel, ohne etwas zu treffen.
Holmes ging voran, als wir die wackelige hölzerne Treppe hinaufstiegen. Wir setzten unsere Schritte sehr vorsichtig,denn die Stufen sahen aus, als könnten sie jeden Augenblick einbrechen. Vor uns wurde eine unregelmäßige Maueröffnung erkennbar, die wahrscheinlich mal eine Tür gewesen war. Dahinter nur Dunkelheit. Ich schaute zurück und sah die Zigeunerin in ihrem Wohnwagen sitzen, von wo aus sie uns mit ihren Blicken verfolgte. Das weiße Band hing immer noch an ihrem Handgelenk. Noch ehe ich oben war, wusste ich, dass man mich getäuscht hatte. Wir hätten niemals herkommen dürfen.
Wir betraten das obere Stockwerk, das früher einmal als Lagerhalle für Kaffee gedient haben musste, denn der Geruch danach hing immer noch in der Luft. Jetzt war der Raum leer. Das Licht der Fackeln drang bis hier oben herauf, und nachdem sich unsere Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnten wir sehen, wo wir uns befanden. Die Wände waren trocken, aber der Boden schien schmutzig. Unter unseren Füßen knarrten die Fußbodenbretter. Die Musik aus der Drehorgel schien jetzt weiter entfernt, und das Rumoren der Menge war leiser. Das Licht, das den Eingang erhellte, nahm immer mehr ab, je weiter wir vordrangen. Bald waren nicht einmal mehr unsere zuckenden Schatten zu sehen.
»Watson …«, murmelte Holmes, und der Ton seiner Stimme sagte mir sofort, was er wollte. Ich zog den Revolver heraus, und sein Gewicht und der kalte Stahl in der Hand beruhigten mich.
»Holmes«, sagte ich. »Wir verschwenden bloß unsere Zeit. Hier ist nichts.«
»Und doch ist hier oben ein Kind gewesen«, erwiderte er.
Ich schaute an ihm vorbei und sah tatsächlich Spielzeug in einer
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