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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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das Land, aber wenn es kälter wurde, kamen sie in die Stadt. Sie waren berüchtigt dafür, dass sie bis spät in die Nacht großen Lärm machten, und ich fragte mich, was die Anwohner wohl über Dr. Silkin’s House of Wonders dachten, denn schon von weitem hörte man eine leiernde Drehorgel, eine wummernde Trommel und das laute Gebrüll eines Marktschreiers.
    Jackdaw Lane war eine schmale Gasse zwischen der Whitechapel und der Commercial Road, die vorwiegend von Läden und Lagerhäusern gesäumt war, fast alle drei Stockwerke hoch, mit Fenstern, die viel zu klein für ihre mächtigen Ziegelmauern erschienen. Ungefähr auf der Hälfte öffnete sich ein von zwei Bretterwänden verdeckter Torbogen, und genau vor dem Eingang hatte sich ein Mann im Frack aufgestellt. Er trug eine altmodische Krawatte und einen verbeulten Zylinder, der so schief auf seinem Kopf saß, als wollte er abspringen. Seine spitze Nase, seine funkelnden Augen und vor allem sein schwarzer Bocksbart ließen ihn wie den perfekten Mephisto aussehen.
    »Das Entree kostet nur einen Penny!«, rief er, sobald er unserer ansichtig wurde. »Treten Sie ein, meine Herren! Sie werden es nicht bereuen! Hier sehen Sie alle Wunder der Welt, von Hottentotten bis zu Esquimaux und noch mehr! Kommen Sie, meine Herrschaften! Dr. Silkin’s House of Wonders. Sie werden verblüfft sein, Sie werden staunen, Sie werden niemals vergessen, was Sie hier sehen!«
    »Sind Sie Dr. Silkin?«, fragte Holmes.
    »Kein anderer, habe die Ehre. Dr. Asmodeus Silkin aus Indien und gerade vom Kongo zurück, meine Herren! Meine Reisen haben mich über den ganzen Globus geführt, und alles, was ich mitgebracht und erfahren habe, sehen Sie hier drin für einen einzigen Penny!«
    Ein schwarzer Zwerg in einer Seemannsjacke und einer roten Hose stand neben ihm und schlug einen fremden Rhythmus auf seiner Trommel. Jedes Mal, wenn der Penny erwähnt wurde, gab es einen Trommelwirbel und einen Tusch. Wir bezahlten unsere zwei Münzen und durften eintreten.
    Das Schauspiel, das uns erwartete, überraschte mich wirklich. Ich nehme an, dass es bei hellem Tageslicht wahrscheinlich sehr schäbig gewesen wäre, aber in der Dunkelheit, nur von glühenden Kohlenbecken erleuchtet, wirkte das Spektakel tatsächlich exotisch und unheimlich. Wenn man nicht zu genau hinsah, konnte man glauben, sich in einer anderen Welt zu befinden, einer Welt wie aus einem Märchenbuch.
    Der Hof war mit dunklem Kopfsteinpflaster bedeckt und von Gebäuden umgeben, die so verfallen waren, dass es richtiger war, von Ruinen zu sprechen. Die Dächer waren teilweise eingestürzt und die oberen Stockwerke den Elementen preisgegeben. Durch offene Fensterhöhlen und geborstene Türen schaute man in den Himmel hinauf, und vom Mauerwerk hingen wackelige Treppen herab. Manche Hauseingänge waren mit rotem Samt zugehängt, und düstere Schilder wiesen auf Sensationen hin, zu denen man sich durch Zahlung weiterer Farthing- und Halfpenny-Stücke Zutritt verschaffen konnte. Der Mann ohne Hals. Das fünfbeinige Schwein. Die hässlichste Frau der Welt. Andere Grotten waren frei zugänglich und man konnte von außen hineinsehen. Die Wachsfiguren, die dort zu sehen waren, zeigten Schrecken und Greuel, die ich aus meinen Abenteuern mit Holmes nur allzu gut kannte: Mordopfer waren das wichtigste Thema. Die tote Maria Marten war da zu sehen, und Mary Ann Nichols lag mit aufgeschlitztem Hals und aufgeschnittenem Unterleib in der Gosse, genau so, wie sie vor zwei Jahren ganz in der Nähe entdeckt worden war. In einem Gebäude hatte man eine Schießbude eingerichtet, ich sah die blitzenden Lichter, die grünen Flaschen am anderen Ende und hörte das Krachen der Schüsse.
    Diese und andere Attraktionen befanden sich am Rand des Hofes, im Inneren aber standen einige Wohnwagen, zwischen denen Bühnen für die Live-Darbietungen aufgebaut waren. Gerade traten zwei identische asiatische Zwillinge auf, die so flüssig mit einem Dutzend Bällen jonglierten, dass es aussah, als wären sie Automaten. Ein Schwarzer mit einem Lendentuch hielt einen glühenden, in einem Kohlebecken erhitzten Schürhaken hoch und schien genüsslich daran zu lecken. Eine Frau mit einem riesigen federbestückten Turban übte sich als Handleserin. Ein älterer Zauberkünstler verblüffte das Publikum mit seinen Tricks.
    Die Menschenmenge, die sich versammelt hatte, war weit größer, als ich von außen vermutet hätte. Mindestens zweihundert Leute schlenderten von einer Vorführung

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