Das Geheimnis des weißen Bandes
Überraschung darstellte, aber für Finch war dieser Auftritt eine Attacke auf alles, was ihm heilig und teuer war. »Geh weg! Verschwinde hier!«, rief er. »Wir haben hier nichts für dich!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Finch«, sagte Holmes. »Ich kenne den Jungen. Was gibt’s, Wiggins?«
»Wir ha’m ihn gefunden, Mr. ’olmes!«, rief Wiggins aufgeregt. »Den Kerl, den Sie suchen. Wir ha’m ihn mit unseren eigenen Augen gesehen, Ross und ich. Wir wollten gerade in das Pfandhaus an der Bridge Lane rein – Ross kennt den Laden, er geht da selbst dauernd hin –, und da steht er, direkt in der Tür. Glasklar, mit der Riesennarbe im Gesicht.« Der Junge zog einen Finger über die eigene Wange. »Ich hab ihn zuerst gesehen, nicht Ross.«
»Und wo ist er jetzt?«, fragte Holmes.
»Wir sind ihm zu sei’m Hotel gefolgt, Sir. Kriegen wir beide eine Guinee, wenn wir Sie hinbringen?«
»Es wird euch schlecht ergehen, wenn ihr das nicht tut«, sagte Holmes. »Aber ich bin immer fair zu euch gewesen, Wiggins. Das weißt du. Sag mir, wo ist dieses Hotel?«
»In Bermondsey, Sir. Mrs. Ol’more’s Private Hotel. Ross hat da jetzt Posten bezogen, während ich losgerannt bin, um Sie zu holen. Wenn der Mann rauskommt, passen wir auf, wo er hingeht. Ross ist zwar noch nicht lange dabei, aber er ist ein schlauer Kerl. Fahren Sie gleich mit mir zurück, Mr. ’olmes? Nehmen Sie eine Droschke? Kann ich mitfahren?«
»Du kannst vorne beim Kutscher sitzen.« Holmes wandte sich zu mir um, und an seinen zusammengezogenen Augenbrauen und der Intensität seiner Mimik erkannte ich, dass sich alle seine Energien auf das konzentrierten, was jetzt bevorstand. »Wir müssen sofort aufbrechen«, sagte er. »Zum Glück haben wir den Gegenstand unserer Ermittlungen jetzt direkt in Reichweite. Wir dürfen nicht zulassen, dass er uns durch die Finger schlüpft.«
»Ich komme mit«, erklärte Carstairs.
»Mr. Carstairs, um Ihrer eigenen Sicherheit willen –«
»Ich habe den Mann gesehen. Ich habe ihn für Sie beschrieben, und wenn irgendjemand bestätigen kann, dass Ihre Jungs den Richtigen aufgespürt haben, dann bin ich das. Außerdem habe ich ein echtes Bedürfnis, diese Sache persönlich zu Ende bringen, Mr. Holmes. Wenn dieser Mann der ist, für den ich ihn halte, dann bin ich der Grund für seine Anwesenheit hier in London, und deshalb habe ich auch das Recht und die Verpflichtung, mich darum zu kümmern.«
»Zum Streiten haben wir keine Zeit«, sagte Holmes. »Also gut. Wir fahren zu dritt. Lassen Sie uns keinen Augenblick mehr verschwenden.«
Und so stürzten wir in den Abend hinaus: Holmes, Wiggins, Carstairs und ich, während Mr. Finch mit offenem Mundhinter uns herstarrte. Eine Droschke war bald gefunden, und wir stiegen ein. Wiggins kletterte auf den Kutschbock. Der Kutscher warf ihm einen verächtlichen Blick zu, gab dann aber nach und überließ ihm sogar einen Zipfel der Decke. Die Peitsche knallte, und schon ging’s los, als ob unsere Eile sich auf das Gespann übertragen hätte.
Es war jetzt beinahe dunkel, und mit der herannahenden Nacht zerstreute sich das Gefühl von Behaglichkeit, mit dem der Tag mich erfüllt hatte. Die Stadt erschien wieder feindlich und kalt. Die Kunden der Warenhäuser, die Straßenhändler und Musikanten waren verschwunden, und ihren Platz am Straßenrand hatten jetzt grell geschminkte Frauen und Schattenmänner im Hintergrund eingenommen. Sie wussten die Dunkelheit nicht nur für ihr Gewerbe zu nutzen, sondern schienen sie mit ihren Heimlichkeiten geradezu selbst zu erzeugen.
Die Kutsche trug uns über die Blackfriars Bridge, wo uns der eisige Wind das Fleisch von den Knochen zu schneiden drohte. Holmes hatte seit unserem Aufbruch aus der Galerie kein Wort mehr gesagt, und ich hatte das Gefühl, dass er eine Vorahnung von allem hatte, was uns bevorstand. Er hätte das niemals zugegeben, und wenn ich es ihm gesagt hätte, wäre er wahrscheinlich wütend geworden. Er war doch kein Wahrsager! Für ihn bestand die Welt nur aus Intellekt, aus systematisch organisiertem gesundem Menschenverstand, wie er einmal gesagt hat. Und doch spürte ich etwas, das sich jeder Erklärung entzog und das man durchaus als übernatürlich beschreiben könnte. Ob es einem gefiel oder nicht, Holmes wusste, dass die Ereignisse dieses Abends einen Wendepunkt darstellen würden, der sein Leben – und ebenso meines – für immer verändern würde.
Mrs. Oldmore’s Private Hotel offerierte ein möbliertes
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