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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Zimmer für dreißig Shilling die Woche, und war genau das, was man für diesen Preis erwarten durfte: ein abgewirtschaftetes,schäbiges Haus mit einer Textilfabrik auf der einen und einer Ziegelei auf der anderen Seite. Es lag nahe am Fluss, und die Luft war rußig und feucht. Es brannten zwar Lampen hinter den Fenstern, aber die Scheiben waren so schmutzig, dass kaum Licht nach draußen drang.
    Ross wartete schon auf uns. Er zitterte vor Kälte, trotz der vielen Zeitungen, die er sich unter die Jacke gestopft hatte. Als Holmes und Carstairs die Kutsche verließen, machte er zwei Schritte rückwärts, und ich sah, dass etwas ihn furchtbar verängstigt hatte. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, und sein Gesicht war aschfahl, als das Licht einer Straßenlaterne ihn streifte. Aber dann sprang Wiggins vom Kutschbock herunter, fasste seinen Spießgesellen am Arm, und der Bann war gebrochen.
    »Das geht schon in Ordnung, mein Kleiner!«, rief Wiggins. »Wir kriegen beide eine Guinee. Hat Mr. ’olmes mir versprochen.«
    »Erzähl mir, was passiert ist, seit du allein warst«, sagte Holmes. »Hat der Mann, den ihr erkannt habt, das Hotel verlassen?«
    »Wer sind diese Männer?« Ross zeigte auf Carstairs und dann auf mich. »Sind das Bullen? Was machen die hier?«
    »Ist schon gut, Ross«, sagte ich. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin Arzt, ich heiße John Watson. Du hast mich heute Morgen schon einmal gesehen, als ihr in der Baker Street wart. Und das ist Mr. Carstairs, der hat eine Kunstgalerie in der Albemarle Street. Wir tun dir nichts.«
    »Albemarle Street – in Mayfair?« Der Junge fror so erbärmlich, dass seine Zähne klapperten. Natürlich waren die Straßenjungen in London den Winter gewöhnt, aber er hatte jetzt mindestens zwei Stunden lang alleine in der Kälte gestanden.
    »Was hast du gesehen?«, fragte Holmes.
    »Ich habe überhaupt nichts gesehen«, erwiderte Ross. Seine Stimme schien sich verändert zu haben. Man konnte fast meinen, dass er etwas zu verbergen hatte. Erneut wurde mir bewusst, dass all diese Kinder trotz ihres zarten Alters dem Wesen nach schon harte kleine Erwachsene waren. »Ich habe hier auf Sie gewartet. Er ist nicht wieder rausgekommen. Reingegangen ist auch keiner. Und jetzt sitzt die Kälte mir in den Knochen.«
    »Hier ist das Geld, das ich versprochen habe – und für dich auch, Wiggins.« Er gab den Jungen die Münzen. »Und jetzt geht nach Hause. Für heute habt ihr genug getan.« Die Jungen steckten das Geld ein und rannten davon. Nur Ross drehte sich noch kurz um und warf uns einen Blick zu.
    »Ich schlage vor, wir gehen jetzt mal rein in dieses Hotel und reden mit unserem Mann«, sagte Holmes. »Ich habe bei Gott keine Lust, hier länger als irgend nötig herumzustehen. Sagen Sie, Watson, ist Ihnen an dem Jungen was aufgefallen? Hatten Sie auch den Eindruck, dass er sich merkwürdig verhielt?«
    »Da war mit Sicherheit etwas, was er uns nicht erzählt hat«, bestätigte ich.
    »Hoffen wir nur, dass er uns nicht irgendwie verraten hat. Mr. Carstairs, halten Sie sich bitte ganz im Hintergrund. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass unser Mann zur Gewalt greifen wird, aber wir sind auch ziemlich unvorbereitet. Dr. Watsons treuer Armeerevolver liegt gewiss ordentlich in ein sauberes Tuch eingeschlagen in einer abgeschlossenen Schublade in Kensington, und ich bin ebenfalls unbewaffnet. Wir werden unsere ganze Geistesgegenwart brauchen. Also kommen Sie!«
    Zu dritt betraten wir das Hotel. Ein paar Stufen führten zur Tür hoch, dahinter lagen eine enge, schlecht beleuchtete Eingangshalle ohne Teppiche und zur Rechten ein kleines Büro. Auf einem Stuhl saß ein älterer Mann, der offensichtlich geschlafen hatte, aber sofort hochfuhr, als wir hereinkamen. »Gottschütze Sie, meine Herren, wir können Ihnen schöne Einzelbetten für fünf Shilling pro Nacht anbieten –«
    »Wir sind nicht gekommen, um hier zu übernachten«, erwiderte Holmes. »Wir sind auf der Suche nach einem Mann, der kürzlich aus Amerika hier eingetroffen ist. Er hat eine große Narbe auf seiner Wange. Die Angelegenheit ist von größter Dringlichkeit, und wenn Sie keinen Ärger mit der Polizei wollen, sagen Sie uns lieber, wo er zu finden ist.«
    Der Hausdiener hatte nicht das Bedürfnis, mit irgendwem Ärger zu haben. »Wir haben bloß einen einzigen Amerikaner«, sagte er. »Sie müssen Mr. Harrison aus New York meinen. Er hat das Zimmer am Ende des Korridors, hier im Erdgeschoss. Er ist

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