Das Geheimnis des weißen Bandes
Ehre. Ich habe natürlich alle Ihre Abenteuer gelesen, Sir. Der größte Detektiv des Landes hier bei uns in Chorley Grange! Das ist wirklich ganz außerordentlich. Wir haben Ihre Geschichten auch im Unterricht durchgenommen. Die Jungs waren begeistert. Sie werden gar nicht glauben, dass Sie tatsächlich hier sind. Haben Sie vielleicht Zeit, ein paar Worte zu ihnen zu sagen? Ach, entschuldigen Sie meine Voreiligkeit, aber ich bin so aufgeregt. Ich bin Reverend Charles Fitzsimmons. Vosper sagt, Sie seien wegen einer sehr ernsten Angelegenheit hier. Mr. Vosper hilft bei der Verwaltung unserer Einrichtung und unterrichtet auch Lesen und Schreiben und Mathematik. Bitte kommen Sie doch mit in mein Arbeitszimmer. Ich möchte Sie unbedingt mit meiner Frau bekannt machen. Vielleicht dürfen wir Ihnen ja eine Tasse Tee anbieten?«
Wir folgten dem Reverend einen weiteren Flur hinunter und in einen Raum, der zu groß und zu kalt war, um jemals gemütlich zu werden, auch wenn man sich mit einigen Bücherschränken, einem Sofa und ein paar Sesseln vor dem Kamin durchaus Mühe gegeben hatte. Ein großer Schreibtisch voller Papiere war so aufgestellt, dass man darüber hinweg durch ein Panoramafenster auf den Rasen und den Obstgarten hinausblicken konnte. Im Korridor war es schon kalt gewesen, aber hier war es noch kälter, trotz des Feuers im Kamin. Die rote Glut und der Geruch nach brennender Kohle gaben allenfalls die Illusion von Wärme. Der Regen hämmerte gegen die Fenster, und Tropfen liefen am Glas herunter. Den Wiesen und Feldern hatte er alle Farbe genommen. Obwohl es erst Nachmittag war, hätte es genauso gut spätabends sein können.
»Hallo, meine Liebe«, rief unser Gastgeber. »Das sind Mr. Sherlock Holmes und Dr. Watson. Sie brauchen unsere Hilfe. Meine Herren, darf ich Ihnen meine Frau Joanna vorstellen?«
Ich hatte die Frau, die in der dunkelsten Ecke des Zimmers in einem Lehnsessel saß und ein Buch mit mehreren hundert Seiten auf ihrem Schoß balancierte, noch gar nicht bemerkt. Wenn das Mrs. Fitzsimmons war, dann bildeten die beiden ein eigentümliches Paar. Sie schien mir ungewöhnlich großund war offenbar einige Jahre älter als er. Sie war vollständig in Schwarz gekleidet. Ihr altmodisches Satinkleid war hochgeschlossen und an den Armen sehr eng, mit schwarzen Posamenten rund um die Schultern. Die Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden, und ihre Finger waren so lang und dünn wie Spinnenbeine. Als kleiner Junge hätte ich sie wahrscheinlich für eine Hexe gehalten. Und so hatte ich bei ihrem Anblick auch plötzlich Verständnis dafür, dass Ross hier weggelaufen war – ein Gedanke, für den ich mich sogleich schämte. Aber an seiner Stelle hätte ich womöglich dasselbe getan.
»Mögen Sie vielleicht einen Tee?«, fragte die Dame des Hauses. Ihre Stimme war genauso dünn wie alles andere an ihr, und ihre Aussprache äußerst geziert.
»Wir wollen nicht lange stören«, sagte Holmes. »Wie Sie gehört haben, sind wir in einer ziemlich dringlichen Angelegenheit hier. Wir sind auf der Suche nach einem Straßenjungen, der uns nur unter dem Namen Ross bekannt ist.«
»Ross? Ross?« Der Reverend durchsuchte sein Hirn. »Ach ja! Der arme, kleine Ross! Wir haben ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Mr. Holmes. Er kam aus einer sehr schwierigen Familie zu uns, aber das ist ja bei vielen unserer Schützlinge so. Er ist nicht lange geblieben.«
»Er war ein sehr widerborstiges Kind«, fuhr seine Frau dazwischen. »Er wollte sich nicht an die Regeln halten. Er hat die anderen Schüler gestört und wollte sich einfach nicht anpassen.«
»Du bist zu hart, meine Liebe, zu hart. Aber es ist leider wahr, Mr. Holmes, dass Ross nie dankbar war für die Hilfe, die wir ihm zu geben versuchten, und sich in unsere Gemeinschaft nicht einfügte. Er war erst ein paar Monate da, dann lief er davon. Das war im Sommer … im Juli oder August. Ich müsste in meinen Aufzeichnungen nachsehen, um es genauer sagen zukönnen. Darf ich fragen, warum Sie nach ihm suchen? Ich hoffe, er hat nichts Unrechtes getan.«
»Nein, keineswegs. Vor ein paar Tagen ist er in London zum Zeugen gewisser Ereignisse geworden. Ich möchte lediglich wissen, was er gesehen hat.«
»Das klingt recht geheimnisvoll, nicht wahr, meine Liebe? Aber ich werde Sie nicht weiter um Aufklärung bitten. Wir wissen nicht, wo er herkam, und wir wissen auch nicht, wohin er gegangen ist.«
»In diesem Fall will ich Ihre Zeit nicht länger
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