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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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vielleicht für sehr streng, aber ich kann Ihnen versichern: Sie lebt für diese Jungen. Sie gibt ihnen Religionsunterricht, hilft bei der Wäsche und pflegt sie auch, wenn sie mal krank sind.«
    »Eigene Kinder haben Sie nicht?«, fragte ich.
    »Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, Dr. Watson. Wir haben fünfunddreißig eigene Kinder, die wir genauso behandeln, als wären sie unser eigen Fleisch und Blut.«
    Er führte uns über den Korridor in einen Raum, der stark nach Leder und frischem Hanf roch. Dort saßen acht oder neun sauber gewaschene und gekleidete Jungen mit Lederschürzen, die sich still auf die Schuhe konzentrierten, an denen sie arbeiteten, während Mr. Vosper, der Mann, der uns eingelassen hatte, über sie wachte. Als wir eintraten, standen sie alle auf und schwiegen respektvoll, aber Mr. Fitzsimmons winkte nur fröhlich. »Setzt euch, Jungs! Setzt euch! Das ist Mr. Sherlock Holmes aus London, der uns einen Besuch abstattet. Zeigen wir ihm, wie fleißig wir alle sind!« Die Jungen setzten ihre Arbeit fort. »Alles in Ordnung, Mr. Vosper?«
    »Ja, Sir.«
    »Gut! Gut!« Fitzsimmons strahlte förmlich vor Wohlwollen. »Sie werden jetzt noch zwei Stunden arbeiten, und dann haben sie eine Stunde frei vor dem Abendessen. Der Tag endet um acht Uhr abends mit den Gebeten, dann geht es ins Bett.«
    Er setzte sich wieder in Bewegung, und seine kurzen Beine mussten hart arbeiten, um ihn voranzubringen. Diesmal zeigte er uns einen Schlafsaal im oberen Stock, der sehr spartanisch, aber sauber und luftig war. Die Betten standen aufgereiht wie Soldaten, jeweils drei Fuß auseinander. Wir warfen einen Blick in die Küche, in den Speisesaal, eine Werkstatt und kamen schließlich in ein Klassenzimmer, wo der Unterricht gerade im Gang war. Es war ein quadratischer Raum mit einem kleinen schwarzen Eisenofen in der Ecke, einer Tafel an der einen und einem gestickten Bibelvers an der anderen Wand. Auf den Regalen an der Wand stand ein Rechenbrett neben ein paar sauber gestapelten Büchern und verschiedenen naturkundlichen Gegenständen wie Kiefernzapfen, Steinen und Tierknochen, die vermutlich bei kleinen Expeditionen gesammelt worden waren. Ein junger Mann korrigierte ein Schulheft, während ein etwa zwölfjähriger Junge als Aufseher vor seinen Klassenkameradenstand und aus einer abgegriffenen Bibel vorlas. Sobald wir eintraten, hörte er auf. Die fünfzehn Schüler, die in drei Reihen vor ihm saßen und zuhörten, standen respektvoll auf und sahen uns mit blassen, ernsten Gesichtern an.
    »Setzt euch bitte«, rief der Reverend. »Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Weeks. War das nicht das Buch Hiob, was ich da gerade gehört habe, Harry? Nackt bin ich von meiner Mutter Leib gekommen, und nackt werde ich wieder dahinfahren … «
    »Ja, Sir.«
    »Sehr gut. Ein schöner Text.« Er gestikulierte in Richtung des Lehrers, der als Einziger sitzen geblieben war. Er war Ende zwanzig, hatte ein eigenartig verqueres Gesicht und einen dichten braunen Haarschopf, der irgendwie schief auf dem Kopf saß. »Das ist Robert Weeks, ein Absolvent vom Balliol College. Mr. Weeks war bereits die ersten Schritte einer höchst erfolgreichen Karriere in der Stadt gegangen, als er sich entschloss, ein Jahr bei uns zu verbringen, um denen zu helfen, die nicht so vom Glück begünstigt sind wie er selbst. Erinnern Sie sich noch an Ross, Mr. Weeks?«
    »Ross? Das war der, der weggerannt ist.«
    »Dieser Gentleman hier ist niemand anderes als Mr. Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv.« Das löste ein gewisses Beben der Erkenntnis bei einigen der Schüler aus. »Er fürchtet, dass Ross in Schwierigkeiten geraten sein könnte.«
    »Das überrascht mich nicht«, murmelte Mr. Weeks. »Er war kein einfacher Junge.«
    »Bist du mit ihm befreundet gewesen, Harry?«
    »Nein, Sir«, sagte der Vorleser.
    »Nun, es muss doch irgendjemanden hier im Raum geben, der mit ihm befreundet war, der gelegentlich mit ihm geredet hat und uns jetzt helfen kann, ihn zu finden? Ihr erinnert euch doch bestimmt, dass wir lange gesprochen haben, als Ross unsverlassen hat. Ich habe euch damals schon gefragt, wo er hingegangen sein könnte, aber ihr habt mir nichts sagen können. Ich bitte euch jetzt noch ein letztes Mal: Denkt darüber nach und besinnt euch!«
    »Ich habe nur den Wunsch, euerm Freund zu helfen«, ergänzte Holmes.
    Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann hob ein Junge in der letzten Reihe die Hand. Er war blond und sehr zart, ich würde sagen,

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