Das Geheimnis des weißen Bandes
lediglich gefolgt. Wie es scheint, waren Sie der Letzte, derden Jungen lebend gesehen hat. Hat er Ihnen nichts gesagt, ehe er fortlief?«
»Warum sollte er mit mir reden? Oder ich mit ihm?«
»Er hätte irgendein Geschäft im Sinn gehabt, haben Sie doch gesagt.«
»Darüber wusste ich nichts.«
»Er wurde zu Tode gefoltert, Mr. Hardcastle. Die Knochen wurden ihm einzeln gebrochen. Ich habe geschworen, seinen Mörder zu finden und vor Gericht zu bringen. Das kann ich nicht, wenn Sie mir Ihre Hilfe verweigern.«
Der Gastwirt nickte langsam, und als er antwortete, geschah dies in maßvollem Ton. »Na schön, der Junge ist vor drei Tagen am späten Abend hier aufgetaucht und hat etwas erzählt von Nachbarn, mit denen er sich zerstritten habe, und dass er einen Schlafplatz brauche. Sally hat mich um Erlaubnis gebeten, ihn bei sich unterbringen zu dürfen, und ich habe sie ihr erteilt. Warum auch nicht? Sie haben den Hof ja gesehen. Das ganze Gerümpel muss endlich mal aussortiert werden, und ich dachte, er könnte vielleicht dabei helfen. Am ersten Tag hat er auch ein bisschen gearbeitet, aber am Nachmittag ist er ausgegangen, und als er wieder zurückkam, schien er sehr zufrieden mit sich.«
»Wusste seine Schwester, was er gemacht hat?«
»Vielleicht, aber zu mir hat sie nichts gesagt.«
»Bitte fahren Sie fort.«
»Es gibt nicht viel mehr hinzuzufügen, Mr. Holmes. Ich habe ihn nur noch einmal gesehen, und das war ein paar Minuten bevor Sie gekommen sind. Er kam in die Bar, als ich gerade die Fässer hochschleppte, und fragte mich nach der Uhrzeit. Da konnte man mal wieder sehen, wie ungebildet und verwahrlost er war, denn er hätte ja nur auf die Kirchturmuhr schauen müssen, da drüben auf der anderen Straßenseite.«
»Dann war er offenbar auf dem Weg zu einer Verabredung.«
»Kann schon sein.«
»Ganz sicher war es so. Warum sollte ein Kind wie Ross nach der genauen Uhrzeit fragen, wenn er sich nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einfinden musste? Sie sagen, er hätte drei Nächte hier bei seiner Schwester verbracht?«
»Er hat ihren Schlafplatz geteilt.«
»Den würde ich mir gern ansehen.«
»Die Polizei ist schon da gewesen. Sie haben nichts gefunden.«
»Ich bin aber nicht die Polizei.« Holmes legte einen halben Sovereign auf den Tisch. »Für Ihre Bemühungen.«
»Na schön. Aber diesmal kann ich Ihr Geld nicht annehmen. Sie sind einem Ungeheuer auf der Spur, und es genügt mir, wenn Sie Ihr Versprechen halten und dafür sorgen, dass dieses Monster niemandem mehr schaden kann.«
Er führte uns hinter die Theke und in einen Korridor zwischen Schankraum und Küche. Eine Treppe führte ins obere Stockwerk hinauf, und darunter befand sich ein schmaler, fensterloser Bretterverschlag, in dem ein Strohsack und eine Decke lagen. Es war völlig dunkel darin, und der Wirt musste eine Kerze entzünden, damit man überhaupt etwas sah. Das war also der Ort, an dem sich Sally zur Ruhe legte, wenn sie erschöpft von einem langen Arbeitstag war. Auf einem Brett an der Wand stand eine Kerze, daneben lag ein schartiges Messer. Mitten auf der kläglichen Ruhestatt lag eine Puppe, die sie irgendwo gefunden haben musste. Als ich das halbzerbrochene, weiße Gesicht und die verrenkten Glieder sah, musste ich unwillkürlich an ihren Bruder denken, der genauso achtlos weggeworfen worden war.
Die Polizei konnte nicht lange gebraucht haben, um diese Unterkunft zu durchsuchen, denn Sally hatte abgesehen von der Puppe offenbar keine privaten Besitztümer.
Holmes ließ seine Blicke durch den düsteren Raum schweifen. »Wozu das Messer?«, murmelte er.
»Um sich zu schützen?«, erwiderte ich.
»Wohl kaum. Die Waffe, mit der sie sich verteidigen wollte, hat sie bei sich gehabt, das wissen Sie besser als jeder andere. Und die hat sie auch mitgenommen. Dieses zweite Messer ist vollkommen stumpf.«
»Und außerdem aus der Küche gestohlen!«, fügte Hardcastle hinzu.
»Die Kerze ist interessant«, sagte Holmes. Er nahm sie hoch, betrachtete sie eingehend und hockte sich dann auf den Boden. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass er einer Spur winziger Wachströpfchen folgte, die beinahe unsichtbar war, die er aber offenbar gleich entdeckt hatte. Sie führte ihn in den Winkel unter der Treppe, der am weitesten von der Bettstatt entfernt war. »Sie hat die Kerze hier in die Ecke getragen … wozu? Es sei denn … Das Messer, bitte!«
Ich reichte ihm das rostige Messer, und er drückte
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