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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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die Klinge in eine Spalte zwischen den Dielen. Eins der Bretter war lose, und es gelang ihm, es auszuhebeln. Dann griff er hinein und zog ein kleines Taschentuchbündel hervor. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, ein wenig zu leuchten, Mr. Hardcastle …«
    Der Wirt hielt seine Kerze zu Holmes herunter. Holmes faltete das Taschentuch auf, und im Licht der flackernden Kerze sahen wir, dass verschiedene Münzen darin waren – drei Farthings, zwei Florins, eine Crown, ein Goldsovereign und fünf Shillingstücke. Für zwei mittellose Kinder war das ein richtiger Schatz. Aber welchem von ihnen hatte das Geld gehört?
    »Das Geld hat Ross gehört«, sagte Holmes, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Den Sovereign hab ich ihm gegeben.«
    »Aber Holmes! Woher wollen Sie wissen, dass er von Ihnen stammt?«
    Holmes hielt die Münze ins Licht. »Die Jahreszahl. Aber schauen Sie sich auch das Bild an. Saint George sitzt zwar hoch zu Ross, aber er hat eine Katsche am Bein. Die ist mir aufgefallen, als ich sie Ross gegeben habe. Das ist die Belohnung, die er für seine Arbeit mit den Irregulären erhalten hat. Aber woher stammt der Rest?«
    »Den hat er von seinem Onkel«, murmelte Hardcastle. Abrupt wandte sich Holmes zu ihm um. »Als er herkam, hat er gesagt, er könne für die Unterkunft zahlen. Ich habe ihn ausgelacht, aber er hat gesagt, sein Onkel hätte es ihm gegeben. Ich habe es nicht geglaubt und habe gesagt, er könne stattdessen im Hof arbeiten. Wenn ich gewusst hätte, dass er so viel Geld hat, hätte ich ihm ein Zimmer im oberen Stockwerk gegeben.«
    »Die Sache nimmt allmählich Gestalt an. Man erkennt den Zusammenhang. Der Junge will die Kenntnisse nutzen, die er als Wachtposten vor dem Hotel von Mrs. Oldsmore gewonnen hat. Er sucht jemanden auf und stellt seine Forderungen. Er wird zu einem Treffen eingeladen, bei dem er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfinden soll. Bei diesem Treffen wird er getötet. Aber zumindest hat er einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Er hat seine Reichtümer bei seiner Schwester gelassen. Die versteckt sie unter den Dielenbrettern. Sie muss todunglücklich sein, weil wir sie vertrieben haben und sie jetzt nicht rankommt. Eine Frage noch, Mr. Hardcastle, und Sie sind uns los. Hat Sally Ihnen gegenüber jemals das House of Silk erwähnt?«
    »Das House of Silk? Nein, Mr. Holmes. Davon habe ich nie gehört. Was soll ich mit diesen Münzen hier machen?«
    »Heben Sie das Geld für Sally auf. Sie hat alles verloren, das Geld, ihre Arbeitsstelle und ihren Bruder. Vielleicht kommt sie ja eines Tages wieder zu Ihnen zurück, weil sie Hilfe braucht. Dann können Sie ihr zumindest das Geld geben.«
    Vom Bag of Nails aus folgten wir dem Themsebogen zurück nach Bermondsay. Ich fragte, ob Holmes das Hotel noch einmal besuchen wolle. »Nicht das Hotel«, sagte er. »Nur die Umgebung. Wir müssen herausfinden, woher der Junge das Geld hatte. Das könnte der zentrale Punkt bei der Frage sein, wer ihn getötet hat.«
    »Das hat er von seinem Onkel«, sagte ich. »Aber wenn seine Eltern tot sind und seine Schwester verschwunden, wie sollen wir dann seine anderen Verwandten finden?«
    Holmes lachte. »Sie überraschen mich, Watson. Haben Sie wirklich so wenig Ahnung von der Sprache, die halb London spricht? Jede Woche besuchen Tausende Tagelöhner und Wanderarbeiter ihre ›Onkel‹. Damit meinen sie ihre Pfandleiher. Die Frage ist nur: Was hat er verkauft, um die Florins und Shillinge zu verdienen?«
    »Und wo hat er die Sachen verkauft?«, fügte ich hinzu. »Es muss Hunderte von Pfandleihern in diesem Teil Londons geben.«
    »Das ist sicher der Fall. Andererseits erinnern Sie sich wahrscheinlich, dass Wiggins und Ross den Mann mit der flachen Mütze bei einem Pfandleiher in der Bridge Street entdeckt haben und Wiggins erwähnt hat, dass Ross dort selbst oft gewesen sei. Vielleicht ist da auch sein ›Onkel‹ zu finden.«
    Die Pfandleihe, vor der wir wenig später standen, war ein Ort gebrochener Versprechen und verlorener Hoffnungen. Die Hinterlassenschaften aller Schichten, Berufe und Lebensweisen waren wie aufgespießte Schmetterlinge in ihren Fenstern zu finden. Über der Tür hing an einer rostigen Kette ein hölzernes Schild mit drei roten Kugeln auf blauem Grund, das sich trotz der Brise keinen Millimeter bewegte, so als wolle es zeigen, dass sich hier nie etwas rührte, dass die Eigentümer, die hier etwas herbrachten, ihre Schätze nie wiedersehen würden.

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