Das Geheimnis des weißen Bandes
Sie können sich auf mich stützen. Ich glaube, ich höre da eine Droschke.«
Und so endeten die Abenteuer dieses Tages damit, dass wir zusammen beim Feuer saßen. Ich trank einen heilsamen Brandy mit Soda zu meiner Genesung, während Holmes wie ein Rasender paffte. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein wenig darüber nachzudenken, wie die Dinge sich entwickelt hatten, denn es schien mir plötzlich, dass wir uns von unserem ursprünglichen Ziel, dem Mann mit der flachen Mütze und seinem Mörder, recht weit entfernt hätten. War es wirklich der Mann, den Ross vor Mrs. Oldmore’s Private Hotel gesehen hatte? Und wieso hatte ihn der Junge erkannt? Aus irgendeinem Grund hatte ihn die Begegnung zu der Überzeugung gebracht, dass er daran Geld verdienen könnte, und danach war er verschwunden. Er mussteseiner Schwester etwas von seinen Absichten verraten haben, denn sie war sehr in Sorge um seinetwillen gewesen. Es war fast, als ob sie uns erwartet hätte. Warum hätte sie sonst eine Waffe bei sich getragen? Und dann diese eigenartige Frage: Sind Sie vom House of Silk? Nach unserer Rückkehr hatte Holmes in seinem Register und in sämtlichen Lexika nachgeschlagen, die in seinen Regalen standen, aber das hatte uns nicht weitergebracht. Wir wussten immer noch nicht, was sie gemeint haben könnte.
Gesprochen haben wir über all diese Fragen nicht. Ich war erschöpft, und ich spürte, dass mein Freund ganz in seine eigenen Gedanken versunken war. Wir würden einfach abwarten müssen, was der nächste Tag brachte.
Und er brachte tatsächlich etwas. Kurz nach dem Frühstück klopfte ein uniformierter Polizist an unserer Tür. »Inspektor Lestrade lässt Sie grüßen, Sir. Er befindet sich zur Zeit an der Southwark Bridge und wäre sehr dankbar, wenn Sie zu ihm kommen könnten.«
»Worum geht es denn, Constable?«
»Um Mord, Sir. Um einen recht scheußlichen.«
Wir machten uns sogleich auf den Weg, zogen unsere Mäntel an und nahmen eine Droschke zur Cheapside. Wir überquerten die drei gewaltigen Bögen, mit denen die Brücke den Fluss überspannt, und fanden Lestrade auf der südlichen Seite. Er stand mit einer Gruppe von Polizisten um etwas herum, das aus der Entfernung wie ein kleines Bündel von Lumpen aussah.
Die Sonne schien, aber es hatte wieder Frost gegeben, und das Wasser der Themse hatte nie kälter und grausamer ausgesehen. Eintönig schlugen die grauen Wellen an das schlammige Ufer. Wir kletterten eine rostige Wendeltreppe von der Straße auf den schmutzigen Sand und die algenbewachsenen Steine hinunter. Es war Niedrigwasser, und der Fluss schien sich vollerAbscheu von dem zurückgezogen zu haben, was hier geschehen war. Nicht weit entfernt war eine Dampferanlegestelle, auf der ein Dutzend Passagiere warteten. Sie stampften mit den Füßen und wärmten sich mit den Armen, während ihre Atemluft kleine Rauchwölkchen bildete. Sie schienen völlig abgetrennt von der Szene, die sich uns darbot. Sie gehörten zum Leben, und hier war nur Tod.
»Ist das der Junge, nach dem Sie gesucht haben?«, fragte Lestrade. »Der Junge aus dem Hotel?«
Holmes nickte. Vielleicht hatte er Sorge, ihm könnte die Stimme versagen.
Der Junge war brutal geschlagen worden. Man hatte ihm seine Arme und Beine gebrochen und jeden einzelnen seiner Finger. Als ich diese schrecklichen Verletzungen sah, wusste ich sofort, dass sie ihm methodisch beigebracht worden waren, eine nach der anderen. Sein Tod war ein langer, qualvoller Tunnel der Schmerzen gewesen. Und am Ende hatte man ihm die Kehle so brutal durchgeschnitten, dass der Kopf fast vom Rumpf getrennt worden war. Ich hatte schon einige Leichen gesehen, sowohl während meiner Zeit als Wundarzt bei der Armee als auch in meinen Jahren mit Holmes, aber etwas so Scheußliches hatte ich niemals gesehen. Unfassbar, dass irgendwer einem dreizehnjährigen Jungen so etwas antun konnte.
»Es ist eine schlimme Sache«, sagte Lestrade. »Was können Sie mir über ihn sagen, Holmes? Hat er in Ihrem Auftrag gearbeitet?«
»Sein Name war Ross Dixon, Inspektor«, erwiderte Holmes. »Ich weiß sehr wenig über ihn. Sie können sich an der Chorley Grange School for Boys in Hamworth nach ihm erkundigen, aber dort wird man Ihnen auch nicht viel mehr sagen können. Er war ein Waisenkind, hatte aber eine Schwester, die bis vor kurzem in einem Lokal in Lambeth gearbeitet hat, The Bag ofNails. Vielleicht können Sie das Mädchen dort finden. Haben Sie die Leiche untersucht?«
»Ja, das haben wir. Die
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