Das Geheimnis des weißen Bandes
»Bargeldsofort! Ankauf und Beleihung von Silber, Schmuck, Kleidung und allen anderen Wertgegenständen« stand auf der Tafel, die unter dem Schild hing. Und so war es auch. Die beiden Schaufenster schienen besser ausgestattet als Aladins Schatzhöhle. Granatschmuck und silberne Uhren, feine Vasen und Porzellantassen, Federhalter, Teelöffel und Bücher kämpften auf den Regalen um Platz, wo neben anderen Merkwürdigkeiten auch ein mechanischer Soldat zum Aufziehen und ein ausgestopfter Eichelhäher auf Posten standen. An den Seiten lagen Stapel von Leinenwaren, von kleinen Spitzentaschentüchern bis zu bestickten Tischtüchern und großen Bettlaken. Eine ganze Armee von Schachfiguren hielt Wache vor einem Schlachtfeld von Ringen und Armreifen, die auf einem grünen Filztuch auf Käufer warteten. Welcher Handwerker hatte wohl seine Sägen, Zangen und Meißel geopfert, um sich am Wochenende Bier und Wurst leisten zu können? Welches kleine Mädchen musste sein Sonntagskleid hergeben, damit die Mutter ein Stück Fleisch auf den Tisch bringen konnte? Das Schaufenster stellte menschliche Erniedrigung nicht nur aus, es feierte sie geradezu. Kam Ross hierher, um Geschäfte zu machen?
Im Westend war es üblich, dass die Pfandhäuser Seiteneingänge hatten, die es der Kundschaft erlaubten, das Geschäft ungesehen zu betreten und zu verlassen. Hier war das nicht der Fall ‒ die Leute, die an der Bridge Lane lebten, konnten sich solche Empfindlichkeiten nicht leisten. Es gab einen Haupteingang, und der stand offen. Wer hineinwollte, musste da durch.
Ich folgte Holmes in das dunkle Innere, wo ein ungefähr fünfzigjähriger Mann auf einem Hocker saß. In der einen Hand hielt er das Buch, das er las; die Finger der anderen schienen immer wieder nach innen zu rollen, als ob er einen unsichtbaren Gegenstand in der Hand drehte. Er war zierlich und schlank und hatte ein schmales Gesicht. Sein Hemd war bis zum Halszugeknöpft, und darüber trug er eine Weste und eine Krawatte. Er wirkte gepflegt, fast ein wenig pedantisch, und erinnerte mich an einen Uhrmacher.
»Und was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte er, fast ohne seinen Blick von der Seite zu heben. Aber er musste uns wohl gleich beim Hereinkommen recht genau angeschaut haben, denn er fuhr fort: »Sie scheinen in offiziellem Auftrag zu kommen. Sind Sie von der Polizei? Wenn ja, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Ich weiß nichts über meine Kunden. Es ist mein Prinzip, dass ich sie nichts frage. Wenn Sie mir etwas zur Aufbewahrung geben wollen, dann kann ich Ihnen einen guten Preis machen. Ansonsten wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«
»Mein Name ist Sherlock Holmes.«
»Der Detektiv? Ich fühle mich geehrt. Und was führt Sie hierher, Mr. Holmes? Ist es vielleicht eine goldene, mit Saphiren bestückte Halskette? Eine hübsche Arbeit. Ich habe fünf Pfund dafür gegeben, ein beträchtlicher Einsatz, aber die Polizei hat sie beschlagnahmt, deshalb war es ein arges Verlustgeschäft. Wenn ich sie hätte verkaufen können, hätte ich vielleicht zehn Pfund dafür gekriegt. Aber so geht’s eben. Wir sind alle auf dem Weg zum Ruin, aber manche haben einen erheblichen Vorsprung.«
Ich wusste, dass er wahrscheinlich log. Was immer Mrs. Carstairs’ Halskette wert sein mochte: Er hatte bestimmt nur ein paar Shilling dafür bezahlt.
»Die Kette interessiert uns nicht«, sagte Holmes. »Und auch nicht der Mann, der sie Ihnen gebracht hat.«
»Das trifft sich gut, denn der Amerikaner, der sie hierhergebracht hat, ist tot. Sagt jedenfalls die Polizei.«
»Wir interessieren uns mehr für einen Ihrer anderen Kunden. Einen dreizehnjährigen Jungen namens Ross.«
»Ich habe gehört, dass Ross das Tal der Tränen ebenfalls verlassen hat. Ziemliches Pech, was? Gleich zwei Täubchen in so kurzer Zeit zu verlieren? Da habe ich mal wieder danebengelegen.«
»Sie haben Ross kürzlich Geld gegeben?«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Wollen Sie es abstreiten?«
»Ich will es weder bestreiten noch bestätigen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich sehr beschäftigt bin und dankbar wäre, wenn Sie jetzt gingen.«
»Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«
»Russell Johnson.«
»Na gut, Mr. Johnson. Ich werde Ihnen einen Vorschlag machen. Ich kaufe alles, was Ihnen Ross gebracht hat, und ich werde Ihnen einen guten Preis dafür zahlen, aber nur unter der Bedingung, dass Sie kein falsches Spiel mit mir treiben. Ich weiß eine ganze Menge über Sie, Mr. Johnson, und wenn Sie
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