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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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ich es nicht so schrecklich langweilig gefunden hätte. Dann hat mich ein Freund eines Tages in den Franco-German Club in der Charlotte Street mitgenommen. Ich glaube nicht, dass Sie ihn kennen. Er gibt überhaupt nichts Französisches oder Deutsches dort, der Betreiber stammt wahrscheinlich aus Blackpool. Aber in dem Moment, als ich die unmarkierte Tür mit dem kleinen Gitter, die schwarz gestrichenen Scheiben und den hell erleuchteten Treppenaufgang dahinter zum ersten Mal sah, war ich verloren. Hier fand ich die Aufregung, die so gänzlich in meinem Leben fehlte. Ich zahlte meine Halfcrown Beitrag und lernte Roulette, Bakkarat, Hazard und, ja, die Würfel kennen. Bald stellte ich fest, dass ich meine Tage verdöste und nur noch darauf wartete, dass die Verlockungen des Abends begannen. Plötzlich war ich von brillanten neuen Freunden umgeben, die sich alle freuten, wenn sie mich sahen, und die natürlich alle nur Lockvögel waren, die der Besitzer bezahlte, damit sie mich dazu brachten zu spielen. Manchmal gewann ich. Aber meistens verlor ich. In der einen Nacht fünf Pfund. In der nächsten zehn. Muss ich mehr sagen? Meine Arbeit interessierte mich nicht mehr und wurde immer schlechter. Schließlich wurde ich entlassen. Mit dem letzten Rest meines Erbes kaufte ich diesen Laden. Ich hoffte, dass ein neuer Beruf, ganz egal wie dürftig und niedrig, meinen Geist beschäftigen würde. Aber nein! Ich gehe immer noch jeden Abend dorthin. Ich kann dem einfach nicht widerstehen, und ich weiß nicht, was noch alles kommt. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, was meine Eltern sagen würden, wenn sie mich sehen könnten. Glücklicherweise sind beide schon tot. Eine Frau und Kinder habe ich nicht. Das ist auch schon der einzige Trost: dass es niemanden interessiert, was aus mir wird. Es gibt also wenigstens keinen Grund, mich zu schämen.«
    Holmes bezahlte das Geld, und wir kehrten gemeinsam zurück in die Baker Street. Aber wenn ich gedacht hatte, damit wäre unsere Tagesarbeit erledigt, dann hatte ich mich geirrt.Noch in der Droschke hatte Holmes die Uhr untersucht. Es war ein schönes Stück, eine Repetieruhr mit weißem Emaille-Zifferblatt in einem goldenen Gehäuse, hergestellt von Touchon & Co in Genf. Initialen oder eine Widmung trug die Uhr nicht, aber auf der Rückseite war eine kleine Gravur: ein Vogel, der auf zwei gekreuzten Schlüsseln saß.
    »Ein Familienwappen?«, schlug ich vor.
    »Watson, Sie sprühen ja förmlich vor Scharfsinn«, erwiderte er. »Genau das glaube ich auch. Ich hoffe, meine Enzyklopädie verschafft uns weitere Aufklärung.«
    In der Tat enthüllten die Nachschlagewerke nach einigem Blättern und Suchen, dass eine der ältesten Familien im Vereinigten Königreich, die Ravenshaws, deren Stammsitz in der Nähe des Dorfes Coln-St-Aldwyn in Gloucestershire liegt, einen Raben mit zwei Schlüsseln im Wappen führte. Lord Ravenshaw, der verdienstvolle Außenminister der letzten Regierung, war kürzlich im Alter von zweiundachtzig Jahren verstorben. Sein Sohn, der Ehrenwerte Alec Ravenshaw, war sein einziger Erbe und hatte sowohl den Stammsitz der Familie als auch den Titel geerbt. Zu meinem leichten Missvergnügen wollte Holmes sogleich nach Gloucestershire aufbrechen, aber ich kannte ihn und seine Ungeduld viel zu gut, als dass ich deswegen mit ihm gestritten hätte. Und zurückzubleiben kam für mich auch nicht in Frage. Wenn ich’s mir recht überlege, war ich damals als Biograph fast genauso eifrig wie er bei seinen Ermittlungen. Vielleicht sind wir deshalb so gut miteinander ausgekommen.
    Ich hatte gerade noch Zeit, ein paar Sachen für die Übernachtung zu packen, dann ging es los, und eine Stunde nach Sonnenuntergang saßen wir bereits in einem gemütlichen Landgasthof, verzehrten eine gut durchgebratene Hammelkeule in Minzsoße und tranken dazu eine schöne Flasche Bordeaux. Ich habe vergessen, worüber wir sprachen. Ich glaube, Holmeserkundigte sich nach meiner Praxis, und ich erzählte ihm von den Forschungsarbeiten Metchinkoffs zur Zell-Theorie. Holmes interessierte sich immer sehr für medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse, obwohl er sich, wie ich an anderer Stelle berichtet habe, davor hütete, sein Gehirn mit Informationen zu überfrachten, die, wie er meinte, für seine Arbeit keinen praktischen Wert hatten. Wer über Politik oder Philosophie mit ihm reden wollte, stand auf verlorenem Posten. Ein zehnjähriges Kind hätte mehr darüber gewusst. Eines allerdings

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