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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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und zwar einfach deshalb, weil es ihm nicht gelungen wäre, genügend Interesse dafür aufzubringen. Er lebt übrigens noch. Er ist vor Jahren in den Adelsstand erhoben und zum Kanzler einer sehr bekannten Universität ernannt worden, mittlerweile aber längst pensioniert.
    »Ist er in London?«, fragte ich.
    »Er ist kaum je woanders. Ich werde ihn wissen lassen, dass wir die Absicht haben, den Club aufzusuchen.«
    Der Diogenes Club war eine der kleineren Clubs an der Pall Mall. Die Architektur war venezianisch-gotisch, mit reich verzierten Spitzbogenfenstern und kleinen Balustraden, was die möglicherweise erwünschte Wirkung hatte, das Innere ziemlichdüster zu machen. Die Eingangstür führte in ein Atrium, das die volle Höhe des Gebäudes nutzte und hoch über unseren Köpfen in ein Kuppelfenster mündete, aber der Architekt hatte die Halle mit so vielen Säulen, Galerien und Treppen gefüllt, dass nur wenig Licht von oben herabsickerte, zumal das große Fenster vom Londoner Ruß praktisch immer tiefschwarz gefärbt war. Besucher durften nur das Erdgeschoss betreten. Nach den Clubregeln war es an zwei Tagen der Woche zulässig, dass sie ein Clubmitglied in den Speisesaal im ersten Stockwerk begleiteten, aber in den siebzig Jahren seit der Gründung des Clubs war das noch nie vorgekommen.
    Mycroft empfing uns wie immer im Stranger’s Room, in dem sich die Eichenschränke unter dem Gewicht der Bücher bogen, etliche Marmorbüsten herumstanden und die Fenster auf die Pall Mall hinausblickten. Über dem Kamin hing ein Porträt der Königin, das von einem Clubmitglied gemalt worden war. Angeblich hatte der Künstler die Monarchin zu beleidigen versucht, indem er einen streunenden Hund und eine Kartoffel ins Bild schmuggelte, aber ich habe die Bedeutung dieser Motive nie ganz verstanden.
    »Mein lieber Sherlock!«, rief Mycroft, als er hereinwatschelte. »Wie geht es dir? Ich sehe, du hast abgenommen. Aber zumindest sonst scheint es dir wieder gut zu gehen.«
    »Und du hast die Grippe überstanden, hab ich gehört?«
    »Es war nur eine ganz milde Erkrankung. Deine Monographie über Tätowierungen hat mir sehr gefallen. Die hast du offensichtlich bei Nacht geschrieben. Leidest du unter Schlaflosigkeit?«
    »Der Sommer war übermäßig warm. Du hast mir gar nicht gesagt, dass du einen Papagei gekauft hast.«
    »Nicht gekauft, Sherlock, geliehen. Dr. Watson, was für eine Freude. Ich hoffe, Ihrer Frau geht es gut? Sie haben sie ja seit einer Woche nicht mehr gesehen. Ihr seid gerade aus Gloucestershire zurückgekommen?«
    »Und du warst in Frankreich.«
    »Mrs. Hudson war ein paar Tage verreist?«
    »Sie ist schon vorletzte Woche wieder zurückgekehrt. Aber du hast eine neue Köchin?«
    »Die letzte hat mir gekündigt.«
    »Wegen des Papageis.«
    »Sie war immer schon überspannt.«
    Diese Unterhaltung fand mit solcher Geschwindigkeit statt, dass ich das Gefühl hatte, einem Tennismatch beizuwohnen. Mein Kopf flog hin und her zwischen den beiden Brüdern.
    Schließlich wies Mycroft uns einen Platz auf dem Sofa zu, während er sich selbst auf der Chaiselongue einrichtete. »Es hat mir leidgetan, vom Tod des jungen Ross zu hören«, sagte er plötzlich sehr ernsthaft. »Du weißt, ich habe dir immer davon abgeraten, mit diesen Straßenjungen zu arbeiten, Sherlock. Ich hoffe, du hast ihn keinem Risiko ausgesetzt?«
    »Es ist noch zu früh, um das genauer zu sagen. Du hast die Zeitungen gelesen?«
    »Natürlich. Lestrade leitet die Ermittlungen. Er ist kein so übler Mann. Diese Geschichte mit dem weißen Band beunruhigt mich allerdings. In Verbindung mit diesem äußerst qualvollen Foltertod würde ich sagen, dass es wohl eine Warnung darstellen soll. Die wichtigste Frage, die du dir stellen solltest, scheint mir, ob es sich um eine allgemeine Warnung handelt oder ob sie gegen dich persönlich gerichtet war.«
    »Man hat mir schon vor sieben Wochen ein weißes Band geschickt«, sagte Holmes. Er hatte den bewussten Umschlag dabei und zog ihn jetzt aus der Tasche. Sein Bruder nahm ihn und untersuchte ihn sorgfältig.
    »Der Umschlag sagt uns nicht viel«, erklärte er schließlich.»Er ist ziemlich hastig durch deinen Briefschlitz geschoben worden, das sieht man schon daran, dass eine Ecke gestaucht ist. Dein Name ist von einem Rechtshänder geschrieben worden, offenbar ein gebildeter Mann.« Er zog das Band heraus. »Die Seide ist indisch. Aber das hast du sicher schon selbst festgestellt. Es war offensichtlich dem

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