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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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griechischen Übersetzers, um Hilfe bat, der sich mit zwei üblen Kriminellen eingelassen hatte. Bis zu diesem Tag hatte ich nicht mal geahnt, dass Holmes einen Bruder hatte, der sieben Jahre älter war als er selbst. Ich war nicht mal auf die Idee gekommen, dass er überhaupt eine Familie haben könnte. Es mag vielleicht merkwürdig scheinen, dass ein Mann, mit dem ich Hunderte von Stunden verbracht habe und den ich gewiss meinen engsten Freund nennen kann, mir gegenüber nie seine Kindheit, seine Eltern, seinen Geburtsort oder sonst irgendetwas erwähnt hat, das ihm widerfahren war, ehe er in der Baker Street wohnte, aber das war nun mal seine Natur. Er feierte nie seinen Geburtstag, und ich habe das Datum erst erfahren, als ich es in seinen Nachrufen las. Einmal erwähnte er, dass seine Vorfahren Landedelleute gewesen seien und dass einer seiner Verwandten ein recht bekannter Künstler sei, aber sonst tat er so, als hätte es seine Familie nie gegeben, so dass man den Eindruck gewinnen musste, ein Genie wie er sei ganz aus eigener Kraft auf die Bühne der Welt gesprungen.
    Es machte ihn menschlicher, als ich erfuhr, dass er einen Bruder hatte – jedenfalls so lange, bis ich dem Bruder begegnet war. Mycroft war in vieler Hinsicht genauso ungewöhnlich wie Holmes: Unverheiratet, ohne Verbindungen, schien er in einerkleinen, selbst geschaffenen Welt zu leben. Diese wurde weitestgehend vom Diogenes Club an der Pall Mall bestimmt, wo er jeden Tag von Viertel vor fünf bis acht Uhr abends zu finden war. Ich glaube, seine Wohnung lag ganz in der Nähe.
    Der Diogenes Club bot, wie es seinem Ruf entsprach, eine Heimstatt für die ungeselligsten und jedem Club abgeneigten Männer der Stadt. Keiner von ihnen sprach je mit einem der anderen. Genauer gesagt, das Reden war sogar untersagt, außer im Stranger’s Room, und auch dort floss die Unterhaltung nicht gerade reichlich. Ich erinnere mich, in der Zeitung gelesen zu haben, dass der Portier einem Mitglied einmal einen guten Abend gewünscht hatte und daraufhin sofort entlassen worden war. Der Speisesaal war so warm und fröhlich wie ein Trappistenkloster. Das Essen allerdings war exzellent, denn der Club hatte einen renommierten französischen Koch in seinen Diensten.
    Dass Mycroft sein Essen genoss, war offensichtlich, denn sein Körper wies eine beträchtliche Fülle auf. Ich sehe ihn immer noch in seinem Sessel sitzen, mit einem Brandy in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Es war jedes Mal sehr verstörend, ihn zu treffen, denn ich erkannte immer einige charakteristische Züge meines Freundes an ihm, die hellgrauen Augen zum Beispiel oder den scharfen Blick, die aber in diesem Gebirge aus Fleisch fremd wirkten, fehl am Platze. Wenn Mycroft dann den Kopf zur Seite drehte, wurde er vollends zum Fremden, zu einem jener Männer, von denen eine stumme Warnung auszugehen schien, von denen man besser Abstand hielt. Manchmal fragte ich mich, wie die beiden wohl als Kinder gewesen waren. Hatten sie jemals gerauft, sich gegenseitig etwas vorgelesen oder zusammen Fußball gespielt? Man konnte sich das nicht vorstellen, denn sie waren zu Männern geworden, die den bloßen Gedanken, sie seien jemals kleine Jungen gewesen, von sich zu weisen schienen.
    Als er seinen Bruder mir gegenüber zum ersten Mal erwähnte, sagte Holmes, dass er Rechnungsprüfer sei und für verschiedene Ministerien arbeite. Aber das war nur die halbe Wahrheit, und später erfuhr ich, dass Mycroft weitaus einflussreicher und mächtiger war, als es auf den ersten Blick schien. Ich meine damit natürlich das Bruce-Partington-Abenteuer, als die Blaupausen für ein streng geheimes U-Boot-Projekt aus der Admiralität gestohlen worden waren. Es war Mycroft, der den Auftrag erhielt, sie wieder zurückzubringen, und Holmes sah sich zu dem Eingeständnis genötigt, dass sein Bruder eine zentrale Figur in Kabinettskreisen war, ein wandelndes Geheimarchiv sensibler Daten und Fakten, der Mann, den jedes Ministerium zu Rate zog, wenn etwas in Erfahrung gebracht werden musste. Holmes war der Meinung, dass sein Bruder ein ebenso guter Detektiv wie er selbst hätte sein können, ja, dass er – und dieses Eingeständnis aus dem Mund meines Freundes überraschte mich wirklich – ihm womöglich sogar überlegen gewesen wäre, wenn er diesen Beruf gewählt hätte.
    Aber Mycroft Holmes besaß eine bemerkenswerte Charakterschwäche: Seine Indolenz war so umfassend, dass er keinen einzigen Fall hätte lösen können,

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