Das Geheimnis des weißen Bandes
und solange keine formale Anklage gegen Mr. Holmes erhoben worden ist, wird niemand mit ihm sprechen dürfen. Sie werden ihn noch heute Nachmittag dem Magistrate’s Court in der Bow Street vorführen.«
»Bei der Verhandlung müssen wir unbedingt anwesend sein.«
»Natürlich. Sie wissen ja, dass in diesem Stadium noch keine Zeugen der Verteidigung auftreten können, Dr. Watson, aber wenn es geht, werde ich trotzdem zu seinen Gunsten aussagen und seinen guten Charakter bezeugen.«
»Wo wird er denn festgehalten?«
»Er ist immer noch in der Bow Street, aber wenn der Richter denkt, dass er vor Gericht gestellt werden muss – und ich kann mir nicht vorstellen, dass er zu einem anderen Ergebnis kommt –, dann wird er ins Gefängnis verlegt.«
»Und welches Gefängnis?«
»Das kann ich nicht sagen, Dr. Watson, aber ich werde alles tun, um ihm zu helfen. Aber bis dahin können Sie ja vielleicht auch etwas tun. Ich könnte mir vorstellen, dass zwei Gentlemen von Ihrem Renommee eine Menge einflussreiche Freunde haben, insbesondere da Sie ja eine ganze Reihe von Fällen geklärt haben, von denen man sagen könnte, dass sie höchst delikater Natur waren. Vielleicht gibt es ja unter den Klienten von Mr. Holmes jemanden, an den Sie sich wenden können?«
Als Erstes dachte ich an Mycroft. Ich hatte ihn bei meinem Bericht über die Ermittlungen meines Freundes bewusst nicht erwähnt, aber ich hatte schon an ihn gedacht, noch ehe Lestrade den Mund aufmachte. Würde er bereit sein, mich zu empfangen? Hier in diesem Zimmer hatte er uns gewarnt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er uns nicht würde helfen können, wenn seine Warnung nicht beachtet wurde. Trotzdem fasste ich den Entschluss, mich so bald wie möglich in den Diogenes Club zu begeben und nach ihm zu fragen. Aber das würde bis nach der Verhandlung beim Magistrate’s Court warten müssen. Lestrade erhob sich. »Ich hole Sie um zwei Uhr ab«, sagte er.
»Vielen Dank, Inspektor.«
»Danken Sie mir nicht zu früh, Dr. Watson. Es kann durchaus sein, dass ich nichts für ihn tun kann. Wenn es je einen Fall gab, der eindeutig aussah, dann ist es dieser.« Ich erinnerte mich, dass Inspektor Harriman letzte Nacht etwas ganz Ähnliches gesagt hatte. »Er will Mr. Holmes wegen Mordes auf die Anklagebank bringen, und Sie sollten auf das Schlimmste vorbereitet sein, Dr. Watson.«
12
Die Beweise in diesem Fall
Ich war noch nie in der Bow Street gewesen, aber als ich mich dem wuchtigen und strengen Gebäude jetzt in der Begleitung Lestrades zum ersten Mal näherte, empfand ich ein eigenartiges Gefühl der Vertrautheit, so als wäre es nur recht und billig, dass ich hier erscheinen musste, und als wäre mein Kommen irgendwie unausweichlich. Lestrade hat mir das wohl am Gesicht abgelesen, denn er lächelte traurig. »Ich vermute, Sie hätten nie gedacht, dass Sie selbst diesen Ort einmal aufsuchen müssen, was, Dr. Watson?« Ich nickte. »Wenn ich daran denke, wie viele Männer Mr. Holmes und Sie vor die Schranken des Gerichts hier gebracht haben …«
Er hatte vollkommen recht. An diesem Ort endete für uns die Verfolgung der Täter, dies war der erste Schritt auf dem Weg nach Old Bailey und möglicherweise zum Galgen. Es ist schon eigenartig. Erst jetzt, am Ende meiner Karriere als Autor, wird mir klar, dass jede einzelne meiner Chroniken damit endete, dass ein Missetäter entlarvt oder verhaftet wurde, dass ich aber stets davon ausging, ihr weiteres Schicksal wäre für meine Leser ohne Interesse, so als ob allein ihre Untaten ihre Existenz rechtfertigten – als wären sie, waren ihre Verbrechen einmal aufgeklärt, keine menschlichen Wesen mit schlagenden Herzen mehr, von ihren gequälten Seelen ganz zu schweigen. Nicht ein einziges Mal habe ich an die Angst gedacht, mit der sie durch diese Türen und düsteren Korridore gegangen sein müssen. Ob einer von ihnen jemals Tränen der Reue geweint oder um dieRettung seiner Seele gebetet hat? Hat einer von ihnen bis zu seinem Ende gekämpft? Es war mir egal. Es war nicht Teil der Geschichten, die ich erzählte.
Aber wenn ich auf diesen kalten, eisstarrenden Dezembertag zurückblicke, an dem Holmes den Mächten gegenübertreten musste, denen er so viele Verbrecher überantwortet hatte, frage ich mich, ob ich ihnen nicht vielleicht unrecht getan habe, selbst Schurken, die so grausam wie Culverton Smith oder so hinterlistig wie Jonas Oldacre waren. Ich schrieb etwas, das heute Detektivgeschichten genannt wird.
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