Das Geheimnis des weißen Bandes
Durch Zufall war mein Detektiv der größte von allen. Aber auf gewisse Weise wurde er durch die Männer – und Frauen – definiert, gegen die er antreten musste. Und die hatte ich einfach weggeworfen, wenn die Geschichte erzählt war. In dem Moment aber, als ich selbst durch die Türen des Bow Street Court ging, kehrten sie mit der größten Heftigkeit in mein Gedächtnis zurück, und es schien mir fast, als ob ich sie rufen hörte: »Willkommen, Watson! Jetzt bist du einer von uns.«
Der Gerichtssaal war quadratisch und fensterlos, mit hölzernen Bänken und Schranken und dem königlichen Wappen auf der gegenüberliegenden Wand. Das war auch der Platz des Richters, eines steifen, älteren Mannes, der ebenfalls etwas Hölzernes hatte. Vor ihm befand sich eine Plattform mit einem Geländer, auf die nacheinander die Gefangenen gebracht wurden. Der Vorgang selbst war ganz mechanisch und erfolgte so rasch, dass sich für den Beobachter ein Gefühl von Monotonie und Gewöhnung einstellte.
Lestrade und ich waren viel zu früh eingetroffen und hatten keine Schwierigkeiten, einen Platz auf der Galerie zu bekommen, wo es kaum Zuschauer gab. Wir sahen zu, wie für einen Fälscher, einen Einbrecher und einen Betrüger Untersuchungshaft angeordnet wurde, bis sie vor Gericht gestellt werdenkonnten. Doch der Richter konnte auch mitfühlend sein. Ein Lehrjunge, der wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Ruhestörung angeklagt werden sollte – es war sein achtzehnter Geburtstag gewesen –, wurde entlassen, nachdem sein Vergehen detailliert protokolliert worden war. Und zwei acht- oder neunjährige Kinder, die wegen Bettelei aufgegriffen worden waren, wurden der Police Courts Mission übergeben, mit einer Empfehlung, sie der Waifs and Strays Society , Dr. Barnados Waisenhaus oder der Society for the Improvement of London’s Children anzuvertrauen. Den Namen der letztgenannten Wohltätigkeit hier zu hören war besonders berührend, denn das war die Organisation, die für Chorley Grange verantwortlich war, die Schule, die Holmes und ich auf unserer Suche nach Ross besucht hatten.
Das alles war ziemlich zügig vonstattengegangen, aber jetzt tippte mir Lestrade auf den Arm, und ich spürte, wie sich im Gerichtssaal ein neues Gravitationsfeld aufbaute. Weitere uniformierte Polizeibeamte und zusätzliche Stenografen nahmen ihre Plätze ein. Der Gerichtsdiener, ein fülliger, eulenähnlicher Mann in schwarzer Robe, näherte sich dem Richter und flüsterte ihm etwas zu. Dann kamen zwei Männer herein, die ich schon einmal gesehen hatte. Sie wurden, ein paar Fuß voneinander entfernt, auf eine der Bänke geführt, die vor dem Richter standen. Der eine war Dr. Ackland, der andere ein gelbgesichtiger, langnasiger junger Mann, der wohl in der vergangenen Nacht in der Menschenmenge hinter Creer’s Place gestanden hatte, ohne einen besonderen Eindruck auf mich zu machen. Hinter ihnen saß der Betreiber der Opiumhöhle selbst, den ich allerdings erst bemerkte, als mich Lestrade auf seine Anwesenheit hinwies. Er wischte sich mehrfach die Hände an seiner Hose ab, als ob er sie abtrocknen müsste. Diese Männer, das wurde mir jetzt klar, waren offensichtlich als Zeugen geladen.
Und dann wurde Holmes gebracht. Er trug immer noch dieselben Kleider, in denen er verhaftet worden war, aber ansonsten sah er sich wenig ähnlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich vielleicht geglaubt, dass er sich auf jene verblüffende Weise verstellte, wie er das häufig bei seinen Ermittlungen tat. Ganz offensichtlich hatte er nicht geschlafen. Er war ausführlich verhört worden, und ich versuchte, gar nicht erst an die zahlreichen entwürdigenden, den gewöhnlichen Verbrechern bestens vertrauten Prozeduren zu denken, denen man ihn unterworfen hatte. Hager war er schon immer gewesen, und jetzt wirkte er völlig ausgezehrt, aber als man ihn auf die Anklagebank führte, drehte er sich plötzlich um, und ich sah in seinen Augen ein kaltes Glitzern. Da wusste ich, dass der Kampf noch nicht vorbei war. Holmes war immer schon am besten gewesen, wenn seine Chancen denkbar gering schienen. Neben mir richtete Inspektor Lestrade sich ebenfalls auf und murmelte etwas. Es war zu spüren, dass er ärgerlich und empört darüber war, wie Holmes hier behandelt wurde. Das war eine Seite seines Charakters, die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte.
Ein Barrister trat auf, ein rundlicher, kleiner Mensch mit schwarzer Robe, weißer Perücke, dicken Lippen
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