Das Geheimnis des weißen Bandes
wahrscheinlich auch Verleumdung verhaftet werden wollen, dann kann ich Ihnen nur raten zu schweigen. Wenn die Sache vor Gericht kommt, können Sie Ihre Aussage machen.Bis dahin muss ich Sie bitten, aus dem Weg zu gehen und mich meine Arbeit machen zu lassen.«
Ich konnte das nicht akzeptieren. »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wer das ist und in welchem Maße die Polizeibehörden dieser Stadt, ja, des ganzen Landes, in der Schuld dieses Mannes stehen?«
»Ich weiß sehr wohl, um wen es sich handelt, aber ich kann nicht erkennen, dass dieser Umstand auch nur das Geringste daran ändert, wie sich der Sachverhalt darstellt. Wir haben ein totes Mädchen. Die Mordwaffe hat er in der Hand. Wir haben einen Zeugen. Ich glaube, das genügt als Anfangsverdacht. Es ist jetzt fast zwölf, und ich kann nicht die ganze Nacht mit Ihnen herumstreiten. Wenn Sie glauben, irgendeinen Anlass zu haben, sich über mein Verhalten beschweren zu müssen, dann können Sie das gleich morgen Vormittag tun. Da kommt unsere Droschke. Lassen Sie mich diesen Mann in die Arrestzelle bringen und das arme Ding da ins Leichenschauhaus.«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie Constable Perkins zurückkehrte und Holmes mit Hilfe des Schotten an den Armen packte und wegschleifte. Der Revolver, den er in der Hand gehabt hatte, wurde in ein Tuch eingewickelt und ebenfalls mitgenommen. Im letzten Moment, als man ihm schon in die Droschke half, drehte er sich noch einmal um und unsere Blicke trafen sich. Ich war sehr erleichtert, als ich sah, dass seine Augen wieder etwas lebendiger waren und die Wirkung der Droge, die er genommen oder die man ihm verabreicht hatte, offenbar nachließ. Inzwischen waren weitere Polizisten eingetroffen, und ich sah, wie Sally mit einem Tuch zugedeckt und auf einer Bahre weggetragen wurde. Dr. Ackland gab Inspektor Harriman eine Visitenkarte, schüttelte ihm die Hand und verließ den Schauplatz. Ehe ich’s mich versah, stand ich allein da – mitten in der Nacht in einem besonders feindseligen und schmutzigen Stadtteil von London. Plötzlich fiel mir der Revolver wieder ein, den Holmes mir gegeben hatte und der jetzt in meiner Manteltasche steckte. Ich schloss meine Hand um den Griff, und der verrückte Gedanke erfasste mich, dass ich ihn vielleicht hätte benutzen sollen, um meinen Freund zu retten. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie ich ihn wegzog, während ich mit dem Revolver Harriman und die Menge in Schach hielt. Aber ein solcher Versuch hätte keinem von uns genutzt. Es gab andere Mittel, um sich zu wehren. Daran dachte ich, während ich den kalten Stahl umklammerte und eilig nach Hause zurückkehrte.
Schon sehr früh am nächsten Morgen hatte ich einen Besucher. Und es war genau der Mann, den ich am dringendsten zu sehen wünschte: Inspektor Lestrade. Als er hereinkam und mich beim Frühstück aufstörte, war mein erster Gedanke, dass er mir mitteilen würde, dass Holmes bereits entlassen worden war und gleich auftauchen würde. Ein Blick auf sein Gesicht genügte allerdings, um diese Hoffnungen zu zerschlagen. Lestrade sah mich grimmig an, ohne auch nur einmal zu lächeln, und ich hatte den Eindruck, dass er entweder viel zu früh aufgestanden war oder gar nicht geschlafen hatte. Ohne um Erlaubnis zu bitten, setzte er sich an den Tisch und ließ sich so schwer auf den Stuhl fallen, dass ich mich fragte, ob er jemals die Kraft finden würde, von diesem Platz wieder aufzustehen.
»Möchten Sie vielleicht mit mir frühstücken?«, fragte ich.
»Ja, gern. Sehr freundlich von Ihnen, Dr. Watson. Ich brauche tatsächlich etwas, was mich wieder aufbaut. Diese Geschichte! Unglaublich! Sherlock Holmes! Haben diese Leute vergessen, was wir ihm verdanken in Scotland Yard? Dass sie ihn tatsächlich für schuldig halten! Aber es sieht nicht gut aus, Dr. Watson. Es sieht gar nicht gut aus.«
Ich schenkte ihm eine Tasse Tee ein. Mrs. Hudson, die von den Ereignissen der vergangenen Nacht noch nichts wusste, hatte wie immer für zwei Personen gedeckt, und so trank Lestrade jetzt – ziemlich geräuschvoll – aus der Tasse von Sherlock Holmes. »Wo ist er jetzt?«, fragte ich.
»Sie haben ihn über Nacht in der Bow Street behalten.«
»Haben Sie ihn besucht?«
»Das haben sie nicht zugelassen! Sobald ich gehört habe, was letzte Nacht passiert ist, bin ich sofort hingefahren. Aber dieser Harriman ist wirklich ein merkwürdiger Typ. Die meisten Beamten in Scotland Yard, sofern sie den
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