Das Geheimnis des weißen Bandes
und schweren Lidern, und es wurde bald klar, dass er hier die Rolle des Staatsanwalts spielen würde, obwohl man ihn eher für einen Zirkusdirektor halten konnte, wenn man sah, wie er das Verfahren dirigierte und den Gerichtssaal als seine Arena missbrauchte.
»Der Angeklagte ist ein wohlbekannter Detektiv«, begann er. »Mr. Sherlock Holmes hat öffentliche Aufmerksamkeit durch eine Reihe von Geschichten erlangt, die zwar grell und sensationell sind, aber zumindest teilweise auf wahren Begebenheiten beruhen.« Schon das ärgerte mich gewaltig, und ich hätte womöglich laut protestiert, wenn mir Lestrade nicht die Hand auf den Arm gelegt hätte. »Es ist nicht zu leugnen, dass es beiScotland Yard zwei oder drei weniger fähige Kriminalbeamte gibt, die ihm zu Dank verpflichtet sind, weil sie ihre Fälle nur mit Hilfe der Hinweise und Einsichten zu lösen vermochten, die er ihnen gegeben hat und die sich tatsächlich als richtig erwiesen.« Jetzt zog Lestrade ein böses Gesicht. »Aber auch die besten Männer haben ihre Dämonen und Schwächen, und bei Mr. Holmes ist es das Opium, was ihn von einem Freund des Gesetzes zum übelsten Missetäter gemacht hat. Es wird von keiner Seite bestritten, dass er gestern kurz nach elf Uhr nachts eine Opiumhöhle in Limehouse betreten hat, die unter dem Namen Creer’s Place bekannt ist. Mein erster Zeuge ist der Besitzer dieses Etablissements, Mr. Creer.«
Creer betrat den Zeugenstand. Er wurde nicht vereidigt, das war in diesem Stadium des Verfahrens nicht nötig. Ich konnte seinen haarlosen, schneeweißen Hinterkopf sehen, der in den Hals überging, ohne dass wenigstens eine Falte angezeigt hätte, wo der eine aufhörte und der andere begann. Der Staatsanwalt warf ihm die passenden Fragen und Stichworte zu, und so erzählte er seine Geschichte.
Ja, der Angeklagte hatte sein Haus kurz nach elf Uhr betreten – ein privates, legales Lokal, Euer Ehren, in dem Gentlemen aus der ganzen Stadt in Ruhe und Sicherheit ihre Pfeife mit Opium rauchen konnten. Holmes, der ihm zu diesem Zeitpunkt ein völlig Unbekannter gewesen sei und dessen Namen er erst später erfahren habe, hatte sehr wenig gesagt. Er hatte die übliche Dosis verlangt und bezahlt, sich auf das dafür vorgesehene Lager begeben und geraucht. Eine halbe Stunde später hatte er dann eine zweite Dosis verlangt. Creer sei besorgt gewesen, weil Holmes so erregt war. Er habe Holmes gewarnt, aber der sei ganz unbeirrbar gewesen und habe in heftigen Worten nach einer zweiten Dosis verlangt. Um eine Szene zu vermeiden und den Frieden des Hauses zu wahren, für den sein Etablissementja bekannt sei, hatte er das Opiumkügelchen gegen Bezahlung herausgegeben. Mr. Holmes hatte seine zweite Pfeife geraucht, aber seine Benommenheit und sein Delirium hatten sich so gesteigert, dass Creer einen Burschen losgeschickt hatte, der einen Polizisten holen sollte, um einen etwaigen Hausfriedensbruch zu verhindern. Er habe auch selbst versucht, Mr. Holmes zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Völlig unkontrolliert, mit rollenden Augen habe Mr. Holmes behauptet, es seien Feinde im Raum, er werde verfolgt und sein Leben sei in Gefahr. Schließlich habe er einen Revolver gezogen, und da habe Mr. Creer ihn aufgefordert zu gehen.
»Ich hatte Angst um mein Leben«, teilte er dem Gericht mit. »Mein ganzes Bestreben richtete sich nur noch darauf, ihn aus dem Haus zu kriegen. Aber nachträglich sehe ich natürlich, dass ich falsch gehandelt habe und dass es besser gewesen wäre, wenn ich ihn im Lokal gelassen hätte, bis Hilfe in Gestalt von Constable Perkins erschien. Denn als ich ihn auf die Straße entließ, war er absolut rasend. Er wusste nicht mehr, was er tat. Ich habe das schon früher erlebt, Euer Ehren. Es kommt selten vor, nur in Ausnahmefällen. Aber es ist eine Nebenwirkung der Droge. Ich bin fest überzeugt, dass Mr. Holmes ein groteskes Monster vor sich gesehen hat, als er das arme Mädchen niedergeschossen hat. Hätte ich gewusst, dass er bewaffnet war, hätte ich ihm das Opium nie verkauft, so wahr mir Gott helfe!«
Die Geschichte wurde in jeder Hinsicht durch einen zweiten Zeugen bestätigt, den gelbgesichtigen Mann, den ich schon bemerkt hatte. Er war ein eher aristokratischer Typ, sehr gelangweilt und überaus kultiviert. Seine schmalen Nüstern schienen die gewöhnliche Luft im Gericht nur mit Abscheu zu atmen. Er war kaum älter als dreißig und nach der neuesten Mode gekleidet. Er trug keine neuen Enthüllungen bei, sondern
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