Das Geheimnis des weißen Bandes
genauer angeschaut, aber als ich ihn jetzt bei Licht sah, fiel mir auf, was für ein unattraktiver Bursche er war. Ein Mann mit grell roten Locken (er hätte in der »Liga der Rotschöpfe« einen Ehrenplatz einnehmen können), einem lang gestreckten Schädel und tiefbraunen Sommersprossen, die fast wie eine Hautkrankheit aussahen. Er hatte einen mickrigen Schnurrbart, einen ungewöhnlich langen Hals und wässrige blaue Augen. Es kann sein, dass ich die negativen Seiten seiner Erscheinung hier übertreibe,denn kaum hatte er den Mund aufgemacht, empfand ich auch schon ein tiefes, möglicherweise irrationales Hassgefühl gegen den Mann, dessen Worte die Schuld meines Freundes besiegeln sollten. Ich habe mir aber für diesen Bericht die offiziellen Protokolle der Vernehmung besorgt und kann deshalb ganz genau wiedergeben, was er gefragt wurde und was er geantwortet hat, so dass niemand behaupten kann, meine Vorurteile würden diese Chronik entstellen.
Der Staatsanwalt : Bitte nennen Sie dem Gericht Ihren Namen.
Zeuge : Ich bin Thomas Ackland.
Der Staatsanwalt : Sie stammen aus Schottland.
Zeuge : Aber ich wohne jetzt seit einigen Jahren in London.
Der Staatsanwalt : Können Sie uns etwas über Ihre Karriere berichten, Doktor Ackland?
Zeuge : Ich bin in Glasgow geboren und habe an der dortigen Universität Medizin studiert. Mein Examen habe ich 1867 gemacht. Ich wurde Dozent an der Royal Infirmary School of Medicine in Edinburgh und danach Professor für Klinische Chirurgie am Royal Hospital for Sick Children in Edinburgh. Vor fünf Jahren bin ich nach dem Tod meiner Frau nach London gezogen, wo man mich eingeladen hat, einer der Direktoren des Westminster Hospital zu werden, wo ich jetzt arbeite.
Der Staatsanwalt : Das Westminster Hospital wurde zugunsten der Armen gegründet und wird mit Spenden unterhalten, nicht wahr?
Zeuge : Ja.
Der Staatsanwalt : Auch Sie selbst haben großzügig für den Unterhalt und die Erweiterung des Krankenhauses gespendet, glaube ich.
Richter : Ich glaube, wir sollten allmählich zur Sache kommen, Mr. Edwards, wenn es Ihnen nichts ausmacht.
Der Staatsanwalt : Sehr wohl, Euer Ehren. Doktor Ackland, könnten Sie dem Gericht vielleicht erläutern, warum Sie sich letzte Nacht in der Nähe von Milward Street und Coppergate Square befunden haben?
Zeuge : Ich hatte einen meiner Patienten besucht. Er ist ein ehrlicher, hart arbeitender Mann, stammt aber aus einer armen Familie. Nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, habe ich mir Sorgen um seine weitere Genesung gemacht. Ich bin erst sehr spät bei ihm gewesen, weil ich am Abend ein Dinner am Royal College of Physicians besucht habe. Ich habe seine Wohnung um elf Uhr verlassen und hatte die Absicht, ein Stück weit zu Fuß nach Hause zu gehen – ich wohne derzeit in Holborn. Aber ich habe mich wohl im Nebel verlaufen, und so war es ein reiner Zufall, dass ich kurz vor Mitternacht auf diesen kleinen Hof kam.
Der Staatsanwalt : Und was haben Sie dort gesehen?
Zeuge : Ich habe alles gesehen. Da war dieses junge Mädchen, kaum vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, in seiner jämmerlich dünnen Kleidung, die es gegen das eisige Wetter kaum schützte. Mir schaudert bei dem Gedanken, was sie um diese Stunde da auf der Straße gemacht hat; denn diese Gegend ist ja bekannt für alle möglichen Laster. Als ich sie erblickte, hatte sie offenbar große Angst, denn sie hatte die Hände erhoben und sagte nur ein einziges Wort: »Bitte …!« Dann fielen zwei Schüsse, und sie fiel zu Boden. Ich wusste sofort, dass sie tot war. Der zweite Schuss hatte den Schädel durchschlagen und muss sie sofort getötet haben.
Der Staatsanwalt : Haben Sie gesehen, wer die Schüsse abgegeben hat?
Zeuge : Nein, zuerst nicht. Es war sehr dunkel, und ich stand unter Schock. Außerdem fürchtete ich um mein Leben, denn ich glaubte, dass nur ein Verrückter auf dieses wehrlose kleineMädchen geschossen haben könnte. Dann erkannte ich ganz in der Nähe eine Gestalt. Es war ein Mann mit einem rauchenden Revolver in seiner Hand. Noch während ich hinsah, stöhnte er plötzlich und fiel auf die Knie. Dann sank er bewusstlos zu Boden.
Der Staatsanwalt : Sehen Sie diesen Mann heute hier im Gerichtssaal?
Zeuge : Ja. Er steht vor mir auf der Anklagebank.
Es entstand erneut Bewegung auf der Publikumsgalerie, denn es war nicht nur mir, sondern auch allen anderen Zuschauern klar, dass diese Aussage den Angeklagten am schwersten belastete. Lestrade, der neben mir saß, war
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