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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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sehr still geworden. Seine Lippen waren ganz dünn, und ich hatte den Eindruck, dass sein Glaube an Sherlock Holmes bis ins Innerste erschüttert war. Und wie war das bei mir?
    Ich muss zugeben, dass ich sehr aufgewühlt war. Auf den ersten Blick war es natürlich undenkbar, dass mein Freund ausgerechnet das Mädchen umgebracht haben sollte, das er so dringend verhören wollte. Denn sie war es ja gewesen, die als Erste vom House of Silk gesprochen hatte, und vielleicht hatte ihr Bruder ihr ja noch mehr erzählt, was uns dort hätte hinführen können. Außerdem war da noch die Frage, was sie überhaupt am Coppergate Square zu suchen gehabt hatte. Hatte man sie entführt und gefangen gehalten, um sie dort sterben zu lassen? Womöglich noch ehe uns Henderson aufgesucht hatte? Hatte er uns bewusst in diese Falle gelockt? Das schien mir die einzig mögliche Antwort.
    Aber gleichzeitig musste ich an ein Prinzip denken, das mir Holmes immer und immer wieder eingeschärft hatte: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, mag sie auch noch so unwahrscheinlich erscheinen. Die Aussage von Creer konnte man ohneweiteres ignorieren, denn ein Mann seines Charakters war sicher bestechlich und würde sagen, was man von ihm verlangte. Aber es wäre absurd gewesen, wenn man behaupten wollte, dass ein prominenter schottischer Arzt, ein bewährter Kriminalbeamter von Scotland Yard und ein Mitglied der englischen Aristokratie wie der Sohn des Earl of Blackwater ohne jeden erkennbaren Anlass zusammengewirkt hätten, um eine solche Geschichte zu erfinden und damit einen Mann zu inkriminieren, dem keiner von ihnen bis dato auch nur begegnet war.
    Das waren die Alternativen für mich: Entweder hatten alle vier gelogen. Oder Holmes hatte wirklich, unter dem Einfluss von Opium, ein schreckliches Verbrechen begangen.
    Dem Richter waren solche Erwägungen gleichgültig. Nachdem er die Zeugenaussagen gehört hatte, verlangte er nach dem Anklagebuch und ließ den Namen und die Adresse meines Freundes, sein Alter und das Verbrechen eintragen, dessen man ihn beschuldigte. Weitere Einträge betrafen die Namen und die Adressen des Anklägers und seiner Zeugen sowie ein Verzeichnis aller Gegenstände, die sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung im Besitz des Angeklagten befunden hatten. (Dazu gehörten unter anderem ein Kneifer, ein Stück Schnur, ein Siegelring mit dem Wappen des Herzogs von Cassel-Felstein, zwei in eine Seite des London Corn Circular gewickelte Zigarettenstummel, eine Pipette, verschiedene griechische Münzen und ein kleiner Beryll. Bis zum heutigen Tage frage ich mich, was sich die Behörden dabei wohl gedacht haben, als sie das alles aufzählten.) Holmes, der während der gesamten Prozedur kein Wort gesagt hatte, wurde jetzt informiert, dass er bis zur Verhandlung im Coroner’s Court, die in der nächsten Woche stattfinden würde, in Haft bleiben müsse. Danach würde es zum eigentlichen Prozess kommen.
    Damit war die Verhandlung beendet. Der Richter hatte eseilig, mit seiner Arbeit weiterzukommen. Es gab noch einige Fälle zu verhandeln, und draußen wurde es allmählich dunkel. Ich sah zu, wie Holmes abgeführt wurde.
    »Kommen Sie, Watson!«, sagte Lestrade. »Bewegen Sie sich. Viel Zeit haben wir nicht.«
    Ich folgte ihm aus dem Gerichtssaal, eine Treppe hinunter bis in den Keller, wo es höchst ungemütlich war. Sogar die Farbe blätterte von den Wänden, und man spürte sofort, dass dieser Teil des Gerichts für die Angeklagten bestimmt war, für Männer und Frauen, die der normalen Welt da oben für immer Lebewohl gesagt hatten. Lestrade war natürlich schon hier gewesen. Er führte mich eilig einen Gang hinunter zu einem hohen, weiß gekachelten Raum, der nur ein einziges Fenster hatte. Ringsum lief eine Bank an den Wänden entlang, aber hölzerne Zwischenwände sorgten dafür, dass diejenigen, die dort saßen, voneinander getrennt blieben und nicht kommunizieren konnten. Ich wusste sofort, dass dies der Warteraum der Gefangenen sein musste. Wahrscheinlich hatte hier auch Holmes darauf warten müssen, dass er nach oben gebracht wurde.
    Wir waren kaum angekommen, als sich die gegenüberliegende Tür öffnete und Holmes in den Raum trat, begleitet von einem uniformierten Beamten. Ich stürzte auf ihn zu und hätte ihn womöglich umarmt, wenn mir nicht plötzlich klar geworden wäre, dass das aus seiner Sicht womöglich nur eine weitere Demütigung unter vielen gewesen

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