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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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unverständlicherweise noch immer geduldeten Lasterhöhlen frei konsumiert werden können.
     
    Ich brauche wohl nicht zu betonen, was für eine unangenehme Lektüre das am Frühstückstisch gleich zu Anfang der Woche war. Außerdem war einiges an dem Bericht ziemlich fragwürdig. Das Bag of Nails war in Lambeth, wieso hatte der Reporter behauptet, Sally Dixon sei auf dem Heimweg gewesen? Bezeichnend war auch, dass nichts darüber berichtet wurde, dass auch Lord Horace in der »Lasterhöhle« gewesen war.
    Das Wochenende war vorübergegangen, ohne dass ich etwas anderes hätte tun können, als mich zu grämen und auf Nachrichten zu warten. Ich hatte Holmes frische Kleider und Verpflegung nach Holloway schicken lassen, ohne Gewissheit, ob er sie erhalten hatte. Von Mycroft hörte ich gar nichts, obwohl ihm die Meldungen in den Zeitungen nicht entgangen sein konnten und ich ihm wiederholt dringende Nachrichten in den Diogenes Club geschickt hatte. Ich wusste nicht, ob ich wütend oder beunruhigt sein sollte. Auf der einen Seite kam es mir kleinlich und bockig vor, dass er sich nicht rührte; denn er hatte uns zwar vor genau dem Vorgehen gewarnt, das schließlich ins Unglück geführt hatte, aber andererseits war die Lage seines Bruders so ernst, dass man trotz allem erwarten konnte, dass er seinen Einfluss benutzte, um ihm zu helfen. Aber dannfiel mir wieder ein, was er zuletzt gesagt hatte: Wenn du in Gefahr gerätst, dann kann ich dir nicht mehr helfen. Und ich fragte mich, wie mächtig dieses House of Silk sein musste, wenn es einen Mann außer Gefecht setzte, dessen Einfluss doch bis in höchste Regierungskreise hineinreichte.
    Ich hatte gerade beschlossen, mich persönlich zum Diogenes Club zu begeben, als es an der Tür klingelte und Mrs. Hudson nach einer kurzen Pause eine außerordentlich schöne Frau hereinführte, die ihre langen Handschuhe und Kleider von schlichter Eleganz mit besonderem Charme trug. Ich war so versunken in meine Gedanken, dass ich einen Augenblick brauchte, ehe ich Mrs. Catherine Carstairs erkannte, die Frau des Kunsthändlers aus Wimbledon, dessen Besuch in unserem Salon diese ganze unglückliche Entwicklung ausgelöst hatte. Als ich sie jetzt erblickte, gelang es mir überhaupt nicht, die nötige Verbindung herzustellen. Ich begriff einfach nicht, wie eine Bande von irischen Ganoven in Boston, die Zerstörung von vier Landschaftsgemälden des großen John Constable und ein Feuergefecht mit Agenten von Pinkerton zu unserem gegenwärtigen Unglück geführt haben konnten. Es war doch irgendwie paradox. In gewisser Weise war die Entdeckung eines Toten in Mrs. Oldmore’s Private Hotel die Ursache aller weiteren Entwicklungen, aber auf der anderen Seite hatte der Tote ja gar nichts damit zu tun. Vielleicht war es der Schriftsteller in mir, der hier Anstoß nahm, aber es kam mir so vor, als ob sich hier zwei meiner Geschichten vermischt hätten, so dass die Figuren aus der einen plötzlich in einer ganz anderen auftauchten. Dergestalt waren meine verwirrten Gefühle beim Anblick von Mrs. Carstairs. Und während ich sie noch anstarrte wie ein Idiot, fing sie abrupt an zu weinen.
    »Aber meine liebe Mrs. Carstairs!«, rief ich und sprang auf die Füße. »Verzeihen Sie mir! Setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
    Sie konnte nicht sprechen. Ich führte sie zu einem Sessel, sie setzte sich, dann zog sie ein Taschentuch heraus und betupfte damit ihre Augen. Ich schenkte ihr ein Glas Wasser ein, aber sie winkte ab. »Dr. Watson, Sie müssen entschuldigen, dass ich hergekommen bin«, sagte sie.
    »Aber nein. Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Als Sie hereinkamen, war ich verwirrt, aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie jetzt meine volle Aufmerksamkeit haben. Gibt es etwas Neues in Ridgeway Hall?«
    »In der Tat. Schreckliche Dinge. Ist Mr. Holmes denn nicht da?«
    »Ach, Sie haben es noch gar nicht gehört? Haben Sie die Zeitungen denn nicht gelesen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich interessiere mich nicht für die Nachrichten. Mein Mann mag es nicht, wenn ich Zeitungen lese.«
    Ich überlegte kurz, ob ich ihr den Artikel zeigen sollte, den ich gerade gelesen hatte, entschied mich aber dagegen. »Ich fürchte, Mr. Holmes ist indisponiert«, sagte ich. »Und daran wird sich leider noch eine Weile nichts ändern.«
    »Dann ist es aussichtslos. Er war meine einzige Hoffnung. Ich habe sonst niemand, an den ich mich wenden kann.« Sie senkte den Kopf. »Edmund weiß nicht,

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