Das Geheimnis des weißen Bandes
Schlimmste und behandeln sie auf Cholera.« Sie senkte den Kopf, und als sie wieder aufsah, standen ihre Augen voll Tränen. »Ich muss Ihnen etwas Schreckliches sagen, Dr. Watson. Ein Teil von mir wäre gar nicht unglücklich, wenn sie sterben würde. Ich habe so etwas noch nie von einem anderen Menschen gedacht, nicht einmal bei meinem ersten Ehemann, wenn er betrunken war und mich schlug. Aber manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass Edmund und ich unseren Frieden hätten, wenn sie uns verlassen würde. Sie scheint entschlossen zu sein, uns auseinanderzubringen.«
»Möchten Sie, dass ich mit Ihnen nach Wimbledon komme?«, fragte ich.
»Würden Sie das tun?« Ihre Augen hellten sich auf. »Edmund wollte nicht, dass ich Sherlock Holmes aufsuche. Er war der Ansicht, sein Auftrag an Ihren Kollegen habe sich ja mittlerweile erledigt. Der Mann, der ihm aus Boston gefolgt war, ist tot, und es gab nichts weiter zu tun. Und wenn man einen Detektiv ins Haus holen würde, sagte er, würde das Eliza nur darin bestärken, dass ihr Verdacht zutreffend sei.«
»Während Sie …?«
»Ich habe natürlich gehofft, dass Mr. Holmes meine Unschuld beweist.«
»Wenn es Ihnen das Leben erleichtert«, sagte ich, »bin ich gern bereit, Sie zu begleiten. Ich muss Ihnen allerdings gleich sagen, dass ich nur ein Allgemeinarzt bin und meine Erfahrungen einigermaßen beschränkt sind. Andererseits hat meine lange Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes mein Auge für das Ungewöhnliche geschärft. Vielleicht entdecke ich ja tatsächlich etwas, was den anderen Ärzten entgangen ist.«
»Ach, Dr. Watson, wollen Sie das wirklich tun? Ich wäre Ihnen unendlich dankbar. Ich fühle mich immer noch so fremd in diesem Land. Da wäre es wirklich ein Segen, jemanden an meiner Seite zu haben.«
Wir brachen zusammen auf. Ich wollte die Baker Street eigentlich nicht verlassen, aber nichts war gewonnen, wenn ich allein dort herumsaß. Obwohl Lestrade sich sehr für mich einsetzte, würde es noch eine Weile dauern, ehe ich Holmes besuchen durfte in Holloway, und auch Mycroft würde erst am Nachmittag im Diogenes Club sein. Außerdem war der Fall des Mannes mit der flachen Mütze ja durchaus nicht gelöst, auch wenn Carstairs das behauptet hatte. Ihn und seine Schwester wiederzusehen konnte recht interessant sein. Ich wusste zwar, dass ich nur ein ziemlich schwacher Ersatz für Holmes selbst war, aber vielleicht war es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass ich da draußen in Wimbledon etwas entdeckte, was die Vorgänge indirekt ein wenig erhellte und die Freilassung meines Freundes beschleunigen könnte.
Zunächst war Carstairs überhaupt nicht entzückt, als ich im Gefolge seiner Frau in die Eingangshalle seines Hauses mit den eleganten Kunstwerken und der leise tickenden Uhr trat. Er wollte gerade zum Lunch gehen und hatte sich entsprechend herausgeputzt; diesmal trug er einen grauen Gehrock, eine dunkelgraue Satin-Krawatte und blanke Lackschuhe. Sein grauer Zylinder und der Spazierstock aus Rosenholz lagen schon auf dem Garderobentisch neben dem Ausgang bereit. »Dr. Watson!«, rief er und wandte sich dann seiner Frau zu. »Ich dachte, wir wären uns einig darüber gewesen, dass wir die Dienste von Sherlock Holmes nicht mehr in Anspruch nehmen.«
»Ich bin nicht Holmes«, sagte ich.
»In der Tat. Ich habe gerade in der Zeitung gelesen, dass Mr. Holmes in höchst missliche Umstände geraten ist.«
»Wegen eines Auftrags, den Sie ihm ins Haus gebracht haben!«
»Und der sich jetzt erledigt hat.«
»Das glaubt er nicht.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Bitte, Edmund«, sagte seine Frau scharf. »Dr. Watson hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, mich zu begleiten und deine Schwester zu untersuchen, damit wir von seiner beruflichen Erfahrung profitieren können.«
»Eliza ist schon von etlichen Ärzten untersucht worden.«
»Da kann eine weitere fachkundige Meinung nicht schaden.« Sie ergriff seinen Arm und schien plötzlich ganz schwach zu werden. »Ich glaube, du weißt gar nicht, was ich in den letzten Tagen durchgemacht habe. Bitte, mein Lieber, lass Dr. Watson zu deiner Schwester. Das wird ihr schon deshalb guttun, weil sie dann noch jemanden hat, dem sie ihr Leiden schildern kann.«
Carstairs gab nach. Er tätschelte ihre Hand. »Na, schön. Aber es wird noch eine Weile dauern. Meine Schwester ist heute spät aufgestanden, und ich habe gehört, dass sie das Mädchen gebeten hat, ein Bad für sie herzurichten. Elsie
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