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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Schweigen entstand. Wir standen da und starrten uns an. Wer würde es wagen, als Erster zu sprechen?
    Es war Harriman. »Wo ist der Sarg jetzt?«, hauchte er.
    »Der wird gerade nach draußen getragen«, sagte Trevelyan. »Hinten wartet ein Wagen des Bestattungsunternehmers, der ihn nach Muswell Hill bringen wird.« Er griff nach seinem Mantel. »Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Wenn er noch da ist, können wir ihn vielleicht stoppen.«
    Den anschließenden Marsch durch das Gefängnis werde ichniemals vergessen. Hawkins stürmte voran, mit dem wütenden Harriman an seiner Seite. Trevelyan und Rivers waren die Nächsten. Ich folgte als Letzter, mein Buch über das Martyrium des Menschen mit dem darin verborgenen Schlüssel immer noch in den Händen. Wie lächerlich sie mir jetzt vorkamen! Denn selbst wenn ich sie meinem Freund hätte geben können, und eine Leiter und einen Strick noch dazu, hätte es für ihn keinen Weg aus diesem Bauwerk gegeben. Ohne Hawkins, der den verschiedenen Wachposten schon von weitem Signale gab, wären wir ja selbst keinen Schritt weit gekommen. Eine nach der anderen wurden die Türen vor uns aufgeschlossen. Niemand kontrollierte uns oder behinderte unsere Passage.
    Der Weg, den wir nahmen, war anders als der, auf dem wir gekommen waren. Denn diesmal kamen wir an einer Wäscherei vorbei, in der Männer über großen Kesseln schwitzten, und an einem Heizungsraum voller glühender Öfen und verschlungener Röhren. Schließlich überquerten wir einen kleinen, grasbewachsenen Hof und gelangten zu einem Seitenausgang des Geländes. Erst hier stellte ein Wächter sich uns in den Weg und fragte nach unseren Papieren.
    »Sie Idiot«, fauchte Harriman. »Erkennen Sie Ihren eigenen Chef nicht?«
    »Machen Sie das Tor auf!«, rief Hawkins. »Wir dürfen keine Sekunde verlieren!«
    Der Wächter tat wie befohlen, und wir rannten alle fünf durch das Tor.
    Und doch musste ich selbst in diesem Augenblick daran denken, wie viele eigenartige Umstände notwendig waren, um die Flucht meines Freundes möglich zu machen. Er hatte offenbar eine Krankheit vorgetäuscht und damit sogar einen ausgebildeten Arzt in die Irre geführt. Nun, das war vielleicht nicht allzu schwer. Aber dass er sich genau zu dem Zeitpunkt auf dieKrankenstation hatte bringen lassen, als dort ein Sarg eingetroffen war, das war schon erstaunlich. Und ohne den Hustenanfall des anderen Patienten, die Nachlässigkeit des geistig beschränkten Krankenpflegers und die offene Tür seiner Zelle wäre seine Flucht auch nicht geglückt. Es war alles zu schön, um wahr zu sein. Dabei waren mir die Einzelheiten natürlich völlig egal. Wenn es Holmes tatsächlich geschafft haben sollte, diesem schrecklichen Ort zu entkommen, dann wäre ich überglücklich gewesen. Aber ich hatte das fatale Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass unsere Spekulationen ein Kurzschluss gewesen waren. Und dass er möglicherweise genau das beabsichtigt hatte.
    Wir befanden uns auf einer breiten Straße mit tief eingeschnittenen Fahrspuren, die auf der einen Seite von der Gefängnismauer und auf der anderen von einer Reihe von Bäumen begrenzt war. Harriman stieß einen Schrei aus und zeigte auf einen wartenden Wagen, den zwei Männer gerade mit einer Kiste beluden, die der Form nach ein roher Sarg war. Ich gebe zu, dass ich einen Moment lang sogar erleichtert war, denn ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen Freund zu sehen und mich zu überzeugen, dass seine Krankheit tatsächlich nur vorgetäuscht war.
    Aber als wir auf den Wagen zurannten, verwandelte sich meine kurze Euphorie in finstere Verzweiflung. Wenn Holmes jetzt gefunden und zurück in das finstere Gefängnis geschleift würde, dann würde Harriman dafür sorgen, dass er keine zweite Chance erhielt und dass auch ich ihn nicht besuchen durfte.
    »Halt!«, schrie er und stürzte sich auf die Fuhrleute, die den Sarg in eine schräge Lage manövriert hatten und gerade dabei waren, ihn auf den Wagen zu hieven. »Stellen Sie den Sarg sofort zurück auf den Boden!«, befahl er. »Ich möchte ihn untersuchen.«
    Die Männer waren handfeste, derbe Burschen, Vater und Sohn, wie es schien. Sie sahen sich verwirrt an, ehe sie der Aufforderung nachkamen, aber schließlich stand der Sarg auf dem Kiesweg.
    »Aufmachen!«
    Diesmal zögerten die Männer noch länger. Eine Leiche im Sarg zu befördern war eine Sache. Sie anzuschauen eine ganz andere.
    »Es ist in Ordnung. Tun Sie nur, was er sagt«, erklärte

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