Das Geheimnis des weißen Bandes
Trevelyan. Und verblüffenderweise fiel mir just in diesem Moment wieder ein, woher ich ihn kannte.
Sein voller Name war Percy Trevelyan, und er war vor sechs oder sieben Jahren zu uns in die Baker Street gekommen, weil er dringend die Hilfe von Sherlock Holmes brauchte. Es ging um einen seiner Patienten, einen gewissen Blessington, der sich sehr merkwürdig benommen hatte und schließlich erhängt in seinem Zimmer entdeckt worden war. Die Polizei hatte angenommen, dass es ein Selbstmord war, eine Ansicht, der Holmes sogleich widersprach. Es war eigenartig, dass ich Trevelyan nicht gleich erkannt hatte, denn ich hatte ihn sehr bewundert und auch einige seiner Arbeiten über Nervenkrankheiten gelesen, für die er immerhin den Bruce-Pinkerton-Preis erhalten hatte. Aber seine Lebensumstände waren schon damals nicht eben glücklich gewesen und hatten sich seither wohl noch ziemlich verschlechtert, denn er war deutlich gealtert und sein Gesicht wies Züge von Erschöpfung und Frustration auf, die ihn beinahe unkenntlich machten. Außerdem hatte er meiner Erinnerung nach früher keine Brille getragen. Aber ich hatte jetzt keinen Zweifel mehr, dass es derselbe Mann war, auch wenn er nur noch Gefängnisarzt war, eine Stellung, die weit unter dem lag, was man von einem Mann mit seinen Fähigkeiten hätte erwarten dürfen.
Im gleichen Moment, als mir einfiel, wer Trevelyan war, wurde mir schlagartig klar, dass er bei diesem Ausbruchsversuch seine Hand im Spiel gehabt haben musste. Mein Herz pochte, doch ich zwang mich, meine Aufregung zu verbergen, um ihn nicht zu gefährden. Im Nachhinein wurde mir auch klar, warum er so getan hatte, als wäre ich ihm gänzlich unbekannt, und jetzt verstand ich auch, wie Holmes in den Sarg gelangt war. Trevelyan hatte seinem geistig beschränkten Krankenwärter die Aufsicht über Holmes ganz bewusst übertragen, obwohl dieser offensichtlich der Aufgabe nicht gewachsen war. Der Sarg hatte bereitgestanden. Es war alles im Voraus geplant worden. Das einzige Pech war gewesen, dass die beiden Fuhrleute so schrecklich langsam gearbeitet hatten. Wahrscheinlich hätten sie längst auf dem Weg nach Muswell Hill sein sollen. Aber jetzt waren alle Bemühungen des Arztes umsonst gewesen.
Der Ältere der beiden Fuhrleute hatte mittlerweile ein Stemmeisen aus seinem Kutschbock geholt. Ich sah zu, wie er es unter den Sargdeckel klemmte und drückte. Das Holz splitterte, die Nägel wurden herausgezogen. Schließlich packten die beiden Männer den Deckel und rissen ihn vollständig ab. Wie ein Mann traten Harriman, Hawkins, Trevelyan und ich an den Sarg.
»Das isser«, grunzte Rivers. »Jonathan Wood.«
In der Tat: Der Mann, der da im Sarg lag, war eine graue, zerschlissene Gestalt, die definitiv nicht Sherlock Holmes und ebenso definitiv mausetot war.
Trevelyan war der Erste, der die Fassung wiedergewann. »Natürlich ist es Wood«, rief er aus. »Ich habe es doch gesagt. Er ist letzte Nacht an einer Herzentzündung gestorben.« Dann nickte er den Fuhrleuten zu. »Bitte schließen Sie den Sarg wieder und nehmen Sie ihn mit.«
»Aber wo ist denn dann Sherlock Holmes?«, sagte Hawkins.
»Er kann nicht aus dem Gefängnis entkommen sein!«, erwiderte Harriman. »Er hat uns irgendwie getäuscht, aber er muss noch da drin sein. Wahrscheinlich wartet er auf eine gute Gelegenheit. Alarmieren Sie Ihre Wachen, und dann durchsuchen wir den Kasten von oben bis unten.«
»Aber das dauert die ganze Nacht!«
Harrimans Gesicht war genauso farblos wie seine Haare. Er drehte sich auf dem Absatz um und hätte wohl am liebsten um sich getreten. »Das ist mir egal! Auch wenn es die ganze Woche dauert! Der Mann muss gefunden werden.«
Aber das wurde er nicht. Zwei Tage später saß ich allein in der Baker Street und las in der Zeitung einen Bericht über die Ereignisse, die ich selbst miterlebt hatte.
Die Polizei hat weiterhin keine Erklärung für das rätselhafte Verschwinden des bekannten Privatdetektivs Sherlock Holmes, der wegen des Mordes an einer jungen Frau am Coppergate Square im Holloway-Gefängnis in Untersuchungshaft einsaß. Inspektor Harriman, der die Ermittlungen leitet, hat die Gefängnisbehörden beschuldigt, sie hätten ihre Pflichten vernachlässigt, ein Vorwurf, der von der Gefängnisleitung entschieden bestritten wird. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass es Mr. Holmes gelungen ist, sich so spurlos aus einer verschlossenen Zelle und einem Gefängnis mit Dutzenden von gesicherten
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