Das Geheimnis meiner Mutter
wechsle ich auch gleich das Thema. Niemand will den Chief der Polizei so reden hören.“
„Ja, ich mache mir auch ständig Sorgen um mein Image.“
Das Café brummte. Leute kamen auf ihrem Weg zum samstäglichen Einkauf herein, um einen Laib Roggenbrot oder einen besonderen Kuchen für den Sonntagskaffee zu kaufen. Ein paar unerschrockene Touristen – Ski- und Langläufer und Snowmobilfahrer – tranken Kaffee und planten ihren Tag auf den Pisten, die die ganze Gegend um den Saddle Mountain durchzogen. Drei ältere Männer saßen an ihrem üblichen Ecktisch. Ihre Mäntel, Schals und Hüte hingen auf dem daneben stehenden Kleiderständer.
Trotz des Chaos’ in ihrem Leben fühlte Jenny sich in Momenten wie diesen stark mit ihrer Gemeinde verbunden. Die quatschenden Kunden, die Gerüche, das Lächeln der Verkäuferin, die geschäftigen Geräusche aus der Backstube – all das schuf eine Atmosphäre, die sicher, vertraut und zeitlos war. Auch wenn sie sich ihr ganzes Erwachsenenleben um diesen Ort gekümmert hatte, war sie dankbar für das altmodische, sich nie verändernde Gebäude am Marktplatz. Auch wenn ihr alles andere genommen worden war, die Bäckerei war noch da, stand solide und echt und sicher an ihrem alten Platz.
Gleichzeitig spürte sie aber auch, wie die Verantwortung schwer auf ihren Schultern lastete. Der emotionale Doppelschlag, erst ihre Großmutter und dann ihr Haus zu verlieren, hatte sie ins Taumeln gebracht. Aber sie hatte ein Geschäft und Angestellte, um die sie sich kümmern musste. Sie sagte sich, dass sie dankbar sein sollte, die Familienbäckerei zu haben. Doch wenn sie ehrlich war, fragte sie sich manchmal, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, hätte sie selber entscheiden dürfen. Die Bäckerei war der Traum ihrer Großeltern, nicht der ihre. Sie fühlte sich schrecklich illoyal, so etwas nur zu denken, aber sie konnte diese Gedanken trotzdem nicht unterdrücken.
Rourke lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute sie an. „Ich würde zu gerne wissen, was dir gerade durch den Kopf geht.“
„Vielleicht gar nichts?“
Er lachte unterdrückt. „Ja, klar.“
„Ich versuche nur, meine ambivalenten Gefühle diesem Ort gegenüber zu ergründen. Ich meine, gegenüber der Bäckerei.“
„Ambivalent? Komm, das hier ist der fröhlichste Platz auf Erden. Vergiss Disneyland. Schau dir nur die Leute an.“
Sie ließ ihren Blick über die Kunden gleiten und sah entspanntes Lächeln und gemütliches Vergnügen auf ihren Gesichtern. „Ich schätze, ich habe das immer als selbstverständlich hingenommen. Und ich bin ambivalent, weil ich zugesehen habe, wie alle meine Freunde nach der Highschool die Stadt verlassen haben. Das ist das, was Menschen in einer Stadt wie dieser hier tun – sie gehen weg.“
„Manche von uns kommen aber auch, um zu bleiben“, merkte er an. „Ich. Olivia Bellamy. Und jetzt auch Greg. Ich habe dich immer darum beneidet, wie du aufgewachsen bist.“
Oh je, dachte sie. Wenn das mal nicht eine private Tür öffnet. „Hast du?“, fragte sie. „Du warst neidisch auf das hier?“
„Ist das so ungewöhnlich?“
„Meine Mom ist weggegangen, als ich noch klein war, und meinen Dad habe ich nicht gekannt. Meine Großeltern haben die ganze Zeit gearbeitet …“
„Und du warst immer eines der fröhlichsten, ausgeglichensten Kinder, das ich kannte.“
Sie nickte und verstand, dass die Art, wie sie aufgewachsen war, vielleicht unorthodox gewesen war, aber sie dennoch eine Kindheit voller Liebe und Sicherheit gehabt hatte. Diese Zeit war auf eine Art reich und erfüllt, die nichts mit Geld zu tun hatte. Rourke war im Luxus aufgewachsen, mit Dienern, Privatschulen, Sommercamps und Reisen nach Europa. Dennoch wusste sie, was er durchgemacht hatte. Joey hatte es ihr in ihrem zweiten gemeinsamen Sommer erzählt. Sie war zum Camp hinaufgegangen, um sich die jährlich stattfindenden Boxkämpfe anzusehen. Rourke gewann jeden Kampf. Aber auch wenn die Menge wie wild jubelte, schien ihm das Siegen keine Freude zu bereiten. Ganz im Gegenteil, als er zum Champion gekürt wurde, stieg er aus dem Ring, übergab sich in einen Eimer und stakste ohne einen Blick zurück davon, unfähig, seinen Sieg zu feiern.
Joey hatte sie an der Schulter berührt und ihr ins Ohr geflüstert: „Sein Vater schlägt ihn.“
Jenny war total perplex gewesen. „Bist du dir sicher?“
Er hatte mit ernster Miene genickt. „Ich bin der Einzige, der davon weiß. Und jetzt du.“
Als Rourke sie
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