Das Geheimnis meiner Mutter
Fünfzehn Minuten später klopfte sie an der Vordertür der Algers. Es war ein großes, im Ranchstil erbautes Haus mit Blick auf den Fluss. Aus der Ferne wirkte es groß und beeindruckend, sogar etwas angeberisch. Aus der Nähe hingegen fielen ihr die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen und die Risse im Mauerwerk auf – eindeutige Anzeichen der Vernachlässigung. Vielleicht hatte der Verfall in dem Moment eingesetzt, als Matthews Frau vor Jahren ohne ein Wort von heute auf morgen weggegangen war. Das war einer der Gründe, warum Jenny sich Zach so verbunden fühlte. Ihre Mütter waren beide fortgegangen.
Als niemand an die Tür kam, machte sich in Jenny eine Mischung aus Frustration und Erleichterung breit. Eine Gnadenfrist. Sie musste es nicht heute erledigen. Sie klopfte noch ein letztes Mal und drückte auf die Klingel. Nichts. Es war niemand zu Hause, und trotz der einsetzenden Dämmerung brannten keine Lichter im Haus. Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Auto zurückzugehen, öffnete sich die Haustür.
„Jenny?“ Zach Alger sah aus, als wenn er gerade aus dem Bett gefallen wäre. Die Haare waren ganz zerzaust und seine Wangen rosig. Er trug eine übergroße karierte Jacke. „Ist irgendwas passiert?“
Okay, dachte sie, bringen wir es hinter uns. „Ich muss mit dir reden, Zach.“
„Sicher. Ich kann in der Bäckerei vorbeikommen …“
„Jetzt.“
„Okay. Ich hole nur eben meine Stiefel.“
„Du brauchst keine Stiefel. Ich bin den ganzen Weg hierhergefahren. Wir können drinnen reden.“
„Aber …“
„Es ist wichtig.“ Aufgrund ihres Vorhabens, in die Stadt zu ziehen, hatte Rourke sie in Selbstverteidigung unterrichtet. Eine der Basistechniken war Selbstsicherheit. Man sollte so in Situationen hineingehen, als hätte man sie unter Kontrolle, dann würde man auch nicht herausgefordert. Jetzt war die passende Gelegenheit, diese Theorie auszuprobieren. Also drückte sie die Tür ein Stück weiter auf und trat ein.
In dem Haus war es eiskalt, und ihre Schritte dröhnten laut auf dem nackten Fußboden. Sie blieb stehen und vergaß einen Moment ihre Selbstsicherheit. „Äh, können wir uns irgendwo hinsetzen und reden? Wo steht dein Computer? Ich muss dir etwas zeigen.“
Zach sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Es war gut möglich, dass er bereits wusste, wieso sie hier war. Er sagte: „Mein, äh, Computer funktioniert im Moment nicht.“
Sie würde ihm das, was ihr wichtig war, vielleicht auch ohne Computer klarmachen können. „Gut, dann setzen wir uns einfach.“
Seine Schultern sackten herunter, als er sich umdrehte und den dunklen Flur voran in die Küche ging, wo schwaches graues Licht durch die kahlen Fenster fiel. Ein kleiner Stapel weißer Kartons aus der Bäckerei stand auf der Arbeitsplatte. Als er ihren Blick auffing, sagte Zach: „Das war Zeug, das weggeworfen werden sollte, ich schwör’s. Das ist alles, was ich mit nach Hause nehme.“
Nicht ganz, dachte Jenny. Inzwischen war sie deutlich irritiert. Sie war noch nie im Haus der Algers gewesen, doch sein Zustand schockierte sie. Es war eiskalt, und es gab kaum ein Möbelstück. Vielleicht fehlte die Hand einer Frau, mutmaßte sie.
Aber das war es nicht. Sogar Greg Bellamy schaffte es, sein Haus warm zu halten. Und selbst Rourke, der Ho-Ho-Kekse essende Junggeselle, hatte Möbel.
„Zach, ist alles in Ordnung?“
Er zeigte auf ein paar dreibeinige Hocker, die am Küchentresen standen. „Wir können uns hierhin setzen.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Ist alles in Ordnung?“
„Sicher“, sagte er. „Alles prima.“
Sie nahm eine CD aus ihrer Handtasche und zeigte sie ihm. „Das hier wollte ich dir auf dem Computer zeigen.“ Sie sah keinen Computer und nahm an, dass es hier überhaupt keinen gab. „Wir müssen es uns allerdings nicht ansehen. Es ist das Überwachungsvideo aus der Bäckerei. Ich schätze, du weißt, was darauf zu sehen ist.“
Panik flackerte in seinen Augen auf. Dann gab er sich sichtlich Mühe, sich zusammenzureißen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Doch, das weißt du, Zach.“ Jenny fiel es schwer zu sprechen. Sie fühlte sich absolut grauenhaft. „Ich bin die Einzige, die das gesehen hat. Ich schaue mir die Bänder nicht jeden Tag an, also weiß ich nicht, wie oft sich die Szene bereits wiederholt hat. Aber die Kamera lügt nicht. Als ich das gesehen habe, war es wie ein Schlag in den Magen.“
Sie hatte sich die Aufnahme wieder und wieder
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