Das Geheimnis unserer Herzen: Roman (German Edition)
fallen und starrte die Eisenbahnschienen vor ihr an. Vielleicht sollte sie wirklich abreisen – und zurückkommen, wenn sie nicht mehr ganz so schutzlos wäre. Sie könnte jemanden als Reisebegleiter einstellen. Frauen waren immer sicherer zu zweit. Aber wen sollte sie mitnehmen? Und was würden ihre Eltern sagen, wenn sie zurückkehrte? Sie würden sie zwingen, Jeremy zu heiraten, was sie absolut nicht zu tun vorhatte. Weder jetzt noch überhaupt.
Nein. Sie erhob sich von der Bank. Sie würde einen Weg finden, am Loch Ness zu bleiben und ihrer Arbeit nachzugehen. Bestimmt war nicht jeder hier so grob wie diese Männer in dem Pub. Von diesem Lokal musste sie sich fernhalten, das war ihr klar, aber es gab doch sicher irgendwo eine angemessenere Unterkunft für die Dauer ihrer Forschungen.
Als der Stationsbeamte sie aufzuhalten versuchte, merkte sie sehr schnell, dass Graeme den Mann mit Geld bestochen hatte. Nun, was dem einen recht war, war dem anderen billig, wie es so schön hieß. Vanessa kramte Geld aus ihrer Tasche.
Sie schleifte ihren Koffer am Seitengriff die grasbewachsene Anhöhe hinunter, die ins Dorf zurückführte, und hörte den Frost auf den Halmen unter ihren Stiefeln knirschen. Ha! Sie war einfallsreich genug. Nur weil irgendein Rüpel von einem Mann behauptete, sie könne hier nicht überleben, hieß das noch lange nicht, dass es so war. Sie würde ihm das Gegenteil beweisen. Der Koffer rappelte und wackelte, als sie ihn hinter sich herzog, ihre Habe verrutschte darin, brachte den Koffer aus dem Gleichgewicht und verdrehte ihr das Handgelenk.
In London zu leben, wo man auf jeder Straße eine Kutsche mieten konnte, machte den Alltag wirklich sehr viel leichter. In diesem Dorf hier waren die Leute zu Fuß oder zu Pferde unterwegs. Sie hatte bestimmt nichts dagegen zu laufen, aber dabei einen großen Schrankkoffer hinter sich herzuziehen, machte es alles andere als einfach.
Und so begann ihre Reise. Sie würde den Koffer noch eine Weile ziehen, bis er völlig instabil wurde, und dann würde sie anhalten, sich daraufsetzen und sich ausruhen. Über eins konnte sie wahrscheinlich sogar froh sein: Die Anstrengung, den Koffer mitzuschleppen, verhinderte wenigstens, dass ihr in dem scharfen Winterwind zu kalt wurde, der ihr Gesicht peitschte, ihr das Haar zerzauste und ihr die Tränen in die Augen trieb.
Bei einer solchen Atempause öffnete sie ihre Ausgabe von Graysons Untersuchung wissenschaftlicher Entdeckungen und las ein wenig von dem Text. Sie hatte einmal versucht, mit Mr. Grayson über einige der Informationen in besagtem Buch zu korrespondieren, aber er hatte unmissverständlich klargestellt, dass er sich mit Briefen einer Dame nicht befassen würde. Trotzdem fand sie sein Buch hilfreich und benutzte es oft, um etwas nachzuschlagen, aber freundliche Gedanken an dessen Verfasser hegte sie dabei keinesfalls.
Sie markierte die Seite, die sie zuletzt gelesen hatte, durch ein Eselsohr und blickte auf das Dorf hinunter. Bis zur Hauptstraße würde sie es mit ihrem Koffer bestimmt noch schaffen. Dort befand sich The Cow and the Dog , das Gasthaus, in dem sie am Vorabend gewesen war, aber es war klar, dass sie dorthin nicht zurückkehren konnte.
Vielleicht sollte sie mit Graemes Mutter sprechen und sie bitten, sie als Pensionsgast aufzunehmen. Er würde nicht Nein sagen können, wenn sie seiner Familie Geld anbot. Kein Mann würde finanzielle Einkünfte ablehnen, wenn sie seinen Angehörigen zugutekamen. Vanessa betrachtete den Pfad, der vom Pub weg und über die Anhöhe zum Cottage seiner Mutter führte.
Graeme hatte gesagt, ihre Familie würde verstehen, warum sie fortgegangen war. Dass ihr niemand Vorwürfe machen würde, sobald alle von Jeremy und Violet erfuhren. Aber das bewies nur, dass er ihre Familie nicht kannte. Oh, Vanessa bezweifelte, dass sie von ihr erwarten würden, Jeremy trotz allem noch zu heiraten, aber irgendwie würden sie die Situation verdrehen und ihr die Schuld an allem geben. Und ehrlich gesagt war sie auch nicht bereit, ihrer Schwester gegenüberzutreten. Sie hatte sich noch nicht entschieden, was sie ihr sagen wollte, und wenn der Moment kam, wollte sie gut vorbereitet sein.
Vanessa stieß einen tief empfundenen Seufzer aus. »Das ist ein verdammt langer Weg, um diesen blöden Koffer mitzuschleppen«, fluchte sie.
»Verzeihung, Madam, aber ist das eine Ausgabe von Graysons Untersuchung wissenschaftlicher Entdeckungen? «, fragte eine Männerstimme.
Als Vanessa
Weitere Kostenlose Bücher