Das Geheimnis unserer Herzen: Roman (German Edition)
um die Steinmauer zu untersuchen, die Niall errichtet hatte.
Graeme ging zu der anderen Seite der Mauer. Stein um Stein hatte Niall sie bis zur Höhlendecke hochgezogen. Auf den ersten Blick schien es keinen plausiblen Grund dafür zu geben, aber das war unwahrscheinlich. Graeme drehte sich um und blickte zu der hohen Decke auf. Die langen, schmalen, fast fleischfarbenen Stalaktiten zeigten auf ihn wie anklagende Finger, um ihm sein Versagen anzulasten. Echos der Stimme seines Vaters hallten ihm durch den Kopf. Aber so schnell würde er nicht aufgeben.
Er wandte den Blick ab und senkte den Kopf, um den Höhlenboden zu untersuchen. Einige Minuten machten sie gemeinsam weiter, und noch immer fand Graeme nichts, was darauf hinwies, was Niall im Schilde führen mochte. Falls er tatsächlich nach dem verdammten Schatz von Loch Ness suchte, warum zum Teufel sollte er dann eine Mauer bauen? Das ergab doch keinen Sinn.
Es sei denn, er hätte den Stein bereits entdeckt und versuchte ihn abzuschirmen, bis er ihn entfernen konnte. Graeme wandte sich noch gerade rechtzeitig der Mauer zu, um zu sehen, wie Vanessa einen Schritt um sie herumging – und dann erfolgte eine Riesenexplosion. Staubwolken wirbelten auf, und Felsen stürzten krachend auf den Boden.
Ein herabfallender Stalaktit traf Graeme und brachte ihn zu Fall. Als er aufstehen wollte und es nicht konnte, merkte er, dass der Stalaktit seinen Arm durchbohrt hatte und ihn am Boden festhielt. Ein greller Schmerz durchzuckte ihn, und seiner Kehle entrang sich ein gequältes Aufstöhnen.
Als der Staub sich legte, sah Graeme, dass die Explosion den Höhlenboden aufgerissen hatte und ein mächtiger Spalt ihn von Vanessa trennte. Auch sie lag auf dem Boden, schien aber unverletzt zu sein.
»Was zum Teufel war das?«, fragte er.
»Irgendeine Art von Explosion.« Sie stand auf und klopfte den Staub von ihren Röcken, sah sich um und trat an den Rand des Spalts, von dem noch immer Erde in das Loch hinunterfiel.
»Beweg dich nicht«, warnte Graeme und hob seinen unverletzten Arm. »Dieser Boden ist noch immer instabil.«
Sie trat ein paar Schritte zurück. »Der Spalt ist zu breit«, sagte sie ruhig. »Ich glaube nicht, dass ich ihn überspringen könnte.«
»Nein, dazu ist er viel zu breit. Nicht einmal ich könnte ihn überwinden«, sagte Graeme.
In dem Moment erst schien sie aufzublicken und zu erkennen, wo er war. Ihre Augen weiteten sich, und sie zeigte auf seinen Arm. »Du bist verletzt, Graeme. Blutest du?«
»Ein bisschen. Es ist nichts Schlimmes. Der Stalaktit hat nur die Haut erwischt«, sagte er, was auch nicht ganz unwahr war, obwohl er noch weit mehr Blut verlieren würde, wenn er das verdammte Ding herauszog. Denn obwohl der Tropfstein vom Umfang her nicht allzu groß war, war er doch sehr scharf, und wäre er ein paar Zentimeter weiter seitlich gelandet, hätte er ihm glatt das Herz durchbohrt.
Graeme biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und zog den Stalaktit mit aller Kraft aus seinem Arm. Er zerfetzte ihm das Fleisch, und Graeme war durchaus bewusst, dass der hohle Ton, der durch die Höhle schallte, aus seiner eigenen Kehle kam. Aber dann war er endlich frei. Blut sprudelte aus der Wunde und lief an seinem Arm hinunter, und er hatte Mühe, sich aufzusetzen, da der Schmerz ihm Übelkeit und Schwindel verursachte.
»Du blutest stark«, sagte Vanessa. »Du musst den Arm abbinden, um die Blutung zum Stillstand zu bringen.«
Er nickte, weil er wusste, dass sie recht hatte. Und er war froh darüber, dass sie es laut genug gesagt hatte, um seinen benebelten Verstand daran zu erinnern, was zu tun war. Er riss sich den anderen Ärmel ab, schlang ihn um seinen Arm und nahm seine Zähne zu Hilfe, um ihn zu verknoten. Der Stoff straffte sich, als er ihn festzog, und die Blutung verringerte sich zu einem kleinen Rinnsal, bevor sie schließlich ganz versiegte.
Ein paar Minuten bewegte Graeme sich nicht und konzentrierte sich nur aufs Ein- und Ausatmen. Ein, aus. Ein, aus.
Dann blickte er über den Spalt zu seiner frischgebackenen Ehefrau hinüber, die mit besorgter Miene, aber völlig furchtlos auf der anderen Seite stand. Verletzt oder nicht, er konnte sie unmöglich dort drüben lassen. Mühsam zog er sich auf die Beine, indem er sich auf seinen unverletzten Arm stützte. Der Abgrund, der zwischen ihnen klaffte, war viel zu breit zum Überspringen. Mit zwei gesunden Armen würde er es vielleicht riskieren, aber selbst dann wäre es noch
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