Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
bequemen Ohrensessel, drehte Däumchen und beobachtete eine Krähe, die sich ihr Federkleid auf einer kleinen Birke im Hinterhof putzte.
Ferdi: „Doktor Seiboldt … nie gehört.“
Elly: „Aber schau mal aufs Datum. Das ist ja fünfzehn Jahre her. Komisch, daß Jens gar nichts davon erzählt hat.“
Herr Schweitzer fand es weniger komisch. Denn wer posaunt schon gerne seine Defizite in die Welt hinaus? Ihn beschäftigte aber etwas ganz anderes: „Das ist doch hoffentlich nicht der Doktor Werner Seiboldt vom Schaumainkai?“
Beider Blicke wanderten zum Briefkopf hoch. Fast zeitgleich entgegneten sie: „Doch. Warum?“
Elly, alleine: „Kennst du den etwa?“
Und ob Herr Schweitzer den kannte. Leider. Der hatte sich bei seiner Freundin Maria von der Heide vor ein paar Jahren mal eine circa vierzig Zentimeter hohe Skulptur gekauft. Erst hatte er so getan, als spiele Geld keine Rolle, dann aber gefeilscht, als hinge sein Leben davon ab. Herr Schweitzer hatte ihn damals in die Kategorie ‚Versnobter Emporkömmling’ gesteckt. Was er zweifelsohne auch war. Einige Male hatte er Doktor Seiboldt mit seinem affektierten blauen Seidenschal dann noch unter seinesgleichen auf dem Affenfelsen gesehen, wo er den Mann von Welt spielte. Das taten fast alle Gäste dort. Sie saßen durch ein paar Stufen erhöht an den Tischen einer Lokalität in der Oppenheimer Landstraße, tranken ihr Piccolöchen, aßen Kleinigkeiten zu überteuerten Preisen und blickten scheinbar desinteressiert aufs vorbeilaufende Fußvolk herab. Mit Genugtuung hatte Herr Schweitzer vor ein paar Wochen die Schließung dieses Szeneschuppens registriert. Und Affenfelsen war natürlich auch nicht der richtige Name gewesen. Phantasiebegabte Sachsenhäuser Schlappmäuler hatten den Schuppen so getauft – in Anspielung darauf, was sich im Frankfurter Zoo bei den Schimpansen so abspielte, wenn sie sich von den Besuchern beobachtet wußten. Der weithin bekannte Sachsenhäuser Schriftsteller K. befand sich seinerzeit auch regelmäßig unter den Gästen. Natürlich.
„Hallo, Simon. Redest du noch mit uns?“ holte Elly Herrn Schweitzer aus der geistigen Versenkung zurück.
„Äh … ja … logo. Doktor Seiboldt. Ein Seelenklempner. Eine arme Sau und geizig. Würde gerne zur Sachsenhäuser Society gehören. Ob er’s inzwischen geschafft hat, weiß ich nicht. Ist auch unwichtig. Mit Jens’ Tod hat er bestimmt nichts zu tun. Das war sicherlich ein Junkie.“
Elly war ob seinen merkwürdigen Ausführungen etwas verdattert. „Natürlich nicht. Hab ich doch gar nicht gesagt.“ Sie zuckte mit den Schultern, faltete das Papier und steckte es in ihre Handtasche. Dann vertiefte sie sich mit den Worten „Mal schauen, ob hier irgendwo steht, warum Jens in Behandlung war“ wieder in den Aktenordner.
Dann kam Maria. Sie und Ferdi teilten die besten Stücke untereinander auf. Elly McGuire fand keinen weiteren Hinweis auf die psychischen Probleme ihres Bruders.
– Rückblende –
Man sagt, ist die Generalprobe ein Flop, reißt einen die Uraufführung vom Hocker. Manchmal ist es so. Manchmal aber auch umgekehrt.
Ein paar Tage nach seinem ersten Mord war noch alles in Butter; der nächste sollte am letzten Freitag im Juni stattfinden. Bis dahin waren es noch drei Tage. Zwar hatte er sein Opfer in spe, einen Bäcker namens Ingolf Decker, über die Jahre schon mehrfach observiert, um dessen Gewohnheiten zu studieren, trotzdem konnte und wollte er nicht ruhig zu Hause im Sessel sitzen und warten, bis es soweit war. In Hessen würde man dazu sagen, er war hibbelig.
Ein neues Fahrrad hatte er sich auch zugelegt. Kosten hatte er keine gescheut. Ein Zwölfgang-Getriebe sorgte für die nötige Geschwindigkeit. Über zweitausend Euro hatte er für das Gefährt mit dem Carbonrahmen hingeblättert. Er schloß es an den Zaun der Pferderennbahn und ging die paar Meter zum Uhren-Walther in der Schwarzwaldstraße. Sein Opfer wohnte schräg gegenüber. In einer Toreinfahrt versteckte er sich. Kein Mensch war unterwegs. In Niederrad wurden die Bürgersteige relativ früh hochgeklappt. Ein Fenster im zweiten Stock war erleuchtet. Er wußte, es war dessen Badezimmer, weil er den Decker dort schon stehen gesehen hatte – mit einer Zahnbürste hantierend. Er blickte auf seine Armbanduhr. In zwölf bis siebzehn Minuten würde der Bäcker das Haus verlassen, um zu seinem Auto zu gehen. So wie immer. Sein Dienst in einer Großbäckerei im Fechenheimer Industriegebiet begann um ein Uhr
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