Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
der Kuhhirtenturm unheimlich. Weißt du, genau an derselben Stelle ist nämlich auch Jens ermordet worden.“
„Ich weiß, mein Schatz. Du selbst hast mir doch den Ausschnitt gegeben.“
„Jetzt, da du’s sagst. Immer dieses Kurzzeitgedächtnis. Meinst du, das wird wieder besser?“
Maria hob den Kopf und blinzelte ihn an. „Vergiß es, Simon. Aber so lange du mich noch erkennst, ist alles nur halb so schlimm.“
„Okay, Claudia, ich werde mir Mühe geben“, scherzte Herr Schweitzer.
„Blödmann. Ich bin doch die Nadine. Wann kannst du dir das endlich merken? Wenn du nicht immerfort mit anderen Frauen rummachen würdest, kämst du auch nicht so durcheinander. Aber so ist das wohl, wenn man mit einem Playboy zusammenlebt.“
Aha, dachte Herr Schweitzer, endlich zeigt meine Abmagerungskur Wirkung. Wurde auch Zeit. Automatisch lüpfte er sein Hemd. Nein, nein, nein, für einen Playboy war da noch viel zu viel Bauch. Hastig strich er das Hemd wieder glatt. Noch war der Playboy pure Ironie. Aber wartet’s nur ab, euch allen zeig ich’s.
Weil sich Maria wieder in den Tian’anmen-Artikel vertiefte, griff er sich den Lokalteil und begann seinerseits zu lesen.
Es handelte sich um einen sehr kurzen Bericht. Am späten Dienstagabend war ein kleines Mädchen von einem abgestellten Taxi überrollt worden, dessen Handbremse sich aus noch ungeklärter Ursache gelöst hatte. Trotz des sofort verständigten Notarztes sei jede Hilfe zu spät gekommen. Das Taxi sei zur kriminaltechnischen Untersuchung abgeschleppt worden.
Herr Schweitzer dachte kurz über eine Verbindung dieser beiden, zwanzig Jahre auseinanderliegenden Geschehnisse am Kuhhirtenturm nach, verschob sie aber ebenso schnell wieder ins Reich der Zufälle. Er faltete den Lokalteil zusammen. „Magst du auch noch einen Kaffee?“
„Oh, gerne. Zur Erinnerung: Deine Erstfrau trinkt ihn mit einem halben Löffel Zucker.“
„Pah.“
Auf dem Weg in die Küche warf er den Artikel in die Kiste für Altpapier, die neben der Anrichte im Flur stand.
Während der Kaffee durchlief, rief er Elly an und erzählte ihr von besagtem Zeitungsartikel. Vielleicht war der Fundort ja doch kein Zufall.
– Rückblende –
Er hatte schlecht geschlafen. Schon die zweite Nacht hintereinander. Er saß auf dem Boden. Sämtliche Montagsausgaben aller Frankfurter Zeitungen lagen um ihn herum ausgebreitet auf dem Parkett. Wie ein Verdurstender hatte er sie in sich aufgesogen. Überall hatte sich der brutale Mord an dem Niederräder Bäcker auf die Titelseite gekämpft. Und nirgendwo war von einer heißen Spur die Rede.
Er fragte sich, ob das jetzt ein gutes Zeichen war. Zum einen war er sich natürlich darüber im klaren, daß die Kripo nicht unbedingt mit ihren Erkenntnissen sofort an die Öffentlichkeit ging, zum anderen standen sie seit dem Mord an seinem ersten Opfer eine Woche zuvor gehörig unter Druck.
Nach reichlichen Überlegungen kam er zu dem Ergebnis, daß wohl doch keine unmittelbare Gefahr für ihn bestand. Was aber mit Vorsicht zu genießen war. Den Gegner nie unterschätzen, hieß es.
Er war alles andere als zufrieden mit sich. War von der Planung bis zum Mord an Heinz-Günther Sattler noch alles glatt gelaufen, so hatte er sich bei Ingolf Decker nicht gerade professionell verhalten. Bloß, weil die Tat um einen einzelnen Tage verschoben werden mußte. Er hatte sich für abgebrühter gehalten.
Wieder stand er auf und ging zum Fenster. Er wartete auf den Müllwagen. Die Sporttasche mit den Klamotten, die er zur Tatzeit getragen hatte, stand griffbereit im Flur. Aufgeregt tigerte er hin und her. Es schien, als wäre er aus einem Jahre währenden Traum erwacht und befände sich in einer brutalen Realität, in der er sich nun nicht mehr zurechtfand. Seine Rachegedanken waren wie ein Wattebausch gewesen, der in palliative Duftwässerchen getränkt war. Sie hatten ihn betäubt und sein Leben erträglich gestaltet. Erstmals traf sein Haß ihn selbst. Der Haß, der zwei Dekaden sein Dasein bestimmt hatte und aufs Dasein an sich gerichtet war. Der Gedanke, daß er nur darauf gewartet hatte, seine Frau endlich beerdigen zu können, damit er loslegen konnte mit seinem Plan, dieser Gedanke setzte sich stur in ihm fest und fraß sich durch seinen Körper wie ein todbringendes Geschwür. Am liebsten hätte er jetzt Gewichte gestemmt oder wäre Joggen gegangen. Runter zum Main und bis nach Bürgel. Oder in die andere Richtung nach Goldstein. Das waren seine zwei
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