Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
hatte sich von dem Fehlschlag nicht aus dem Konzept bringen lassen, war ein Gefangener im Netz seiner eigenen Philosophie. Der Plan, der allem zu Grunde lag, wartete darauf, umgesetzt zu werden. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so hatte das gestrige Fiasko doch an seinen Nerven genagt. Kurz hatte er in Erwägung gezogen, statt der Drahtschlinge jene Pistole zu benutzen, die er sich eigens für Jens Auer zugelegt hatte. Das ging aber nicht, die Bullen hätten sonst ein zu leichtes Spiel gehabt. Zweimal dieselbe Tatwaffe und die Verbindung wäre hergestellt.
So entfuhr ihm ein Riesenseufzer, als sich der Bäcker pünktlich wie ein Maurer auf den Weg zur Arbeit begab.
Die Tat verlief dann doch nicht nach Plan. Viel zu früh war der Bäcker auf ihn aufmerksam geworden. Ein kräftiger Schlag aufs Kinn streckte ihn nieder. Erst dann kam die Schlinge zum Einsatz. Er hielt erst inne, als sich der Draht durch alle Weichteile gearbeitet hatte. Sein eigener Schatten verlieh dem Blut eine tiefschwarze Färbung. Es kostete ihn einige Mühe, die Schlinge wieder zu lösen. Dazu mußte er den fast abgetrennten Kopf vom Boden heben. Nur mühsam unterdrückte er den starken Brechreiz.
Benommen bestieg er sein Fahrrad. Fast hätte er die Schlinge auf dem Bürgersteig vergessen. Wie nie zuvor trat er in die Pedale. Bei der Tour de France hätte er damit eine Sprintwertung gewonnen. Obwohl er die letzten Jahre Sport bis zum Exzeß betrieben hatte, lief ihm der Schweiß in Strömen herab. Obendrein pochte sein Herz wie wild.
In tranceähnlichem Zustand verbrachte er Stunden auf dem Sofa seiner Wohnung im Goldbergweg. Nur langsam kam er wieder zu sich. Noch immer lag die Mordwaffe in seinem Schoß. Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit betrachtete er sie.
Dann ging er in die Küche und holte sich eine Flasche Wasser. Wieder setzte er sich und versuchte, das, was geschehen war, zu rekapitulieren.
Es gelang ihm nicht. Er wußte, Ingolf Decker war definitiv tot. Das war aber auch schon alles. Hatte das Opfer ihn berührt? Er stand auf, ging zum Spiegel im Flur und untersuchte sein Gesicht nach Kratzspuren. Keine, soweit er feststellen konnte. Er befühlte seine Kopfhaut. Auch dort keine Unregelmäßigkeiten. Die Drahtschlinge war hier, das Fahrrad stand im Keller. So weit, so gut. Aber was war schiefgelaufen? War überhaupt etwas schiefgelaufen? Akribisch ging er alle Möglichkeiten, die ihm einfielen, durch. Aber egal, was er auch dachte, immer blieb ein Restzweifel. Hat mich jemand gesehen? Habe ich irgendwelchen Unsinn gebaut, der mich zweifelsfrei überführt?
Nach reiflichen Überlegungen kam er zu dem Schluß, daß ihm nur eine einzige Möglichkeit blieb: Jens Auer so schnell wie möglich zu töten, nicht daß die Bullen ihm dazwischenfunkten. Aber das ging ja nicht. Der 4. Juli!
„Scheiße, scheiße, scheiße“, fluchte er. Es klang wie eine Gebetsformel.
Dann wurde er gewahr, daß der Tag schon reichlich vorangeschritten war. Die Entsorgung der Kleidungsstücke, die er während des Mordes getragen hatte, mußte verschoben werden. Mit Sicherheit waren unten am Main die ersten Jogger und Hundehalter unterwegs.
Er zog sich aus und verstaute seine Klamotten samt Schuhen und Drahtschlinge in einer Plastiktüte. Nackt setzte er sich auf den Bettrand und betrachtete das gerahmte Foto seiner verstorbenen Tochter.
– Ende der Rückblende –
Herr Schweitzer erwachte am frühen Nachmittag. Zu behaupten, er fühle sich wie gerädert, wäre eine gelinde Untertreibung. Die schwarze Katze lag zusammengerollt zu seinen Füßen und blinzelte ihn verschlafen an.
„Na Pepsi, du weißt nicht zufällig, wo Maria steckt?“
Sie gähnte.
„Okay, ich habe verstanden. Schlaf weiter.“
Er rappelte sich auf und schlurfte barfuß in die Küche. Im Vorbeigehen warf er einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Friseur, aber dalli, signalisierte ihm sein Ebenbild. Seine kaum zu bändigenden grauen Haare standen nach allen Seiten ab. Erfolglos versuchte er zu glätten, was nicht zu glätten war. Dankbar nahm er den Kaffeegeruch wahr. Er schenkte sich eine Tasse ein und setzte sich an den Küchentisch.
Unabhängig davon, ob er sich am Vorabend die Kanne gegeben oder einen Joint geraucht hatte, oder beides, kam Herr Schweitzer nach dem Aufstehen nur schwer in die Gänge. Ein Aktivposten war er sowieso selten, egal in welcher Hinsicht.
Er war bei der zweiten Tasse angekommen, als er sich seinem ersten Problem widmete. Und das war
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