Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
ganz klar der gestrige Abend. Weinfaß ohne Alkohol war ein Unding, das wußte er jetzt. Aber er hatte auch nicht vor, nun, da er mitten im Gesundheitstrip steckte, sich nur aus dem einen Grunde zu besaufen, weil alle anderen es auch taten. Außerdem, so gestand er sich ein, war er auch nicht mehr der Jüngste. Mit fast vierundfünfzig war man halt kein junger Hüpfer mehr, der fünf Mal die Woche die Sau rausließ, als gäbe es kein Morgen. Er fragte sich, wie er die Sache in Zukunft handhaben sollte. Was gar nicht so einfach war, schließlich war das Weinfaß sein zweites Wohnzimmer. Mehr Joints bei gleichzeitiger Alkoholreduktion wäre eine denkbare Alternative. Hierfür sprachen die indischen Yogis, welche am Ganges sitzend sich einen nach dem anderen reinzogen und so ganz nebenbei von Erleuchtungen heimgesucht wurden. Das wäre was für Herrn Schweitzer. Er sah sich bereits in einem Campingstuhl am Eisernen Steg sitzen, im Schoß ein Beutel der aktuellen holländischen Marihuana-Ernte, eingehüllt in betörenden Rauchschwaden den vorbeiziehenden Frachtschiffen nachschauen. Und falls das mit der Erleuchtung nichts werden sollte, auch gut, er hatte es wenigstens versucht; der Weg ist schließlich das Ziel.
Auch hegte er den Verdacht, der Bundestag sei nur deswegen aus dem verschlafenen Bonn nach Berlin gezogen, weil dort das Drogenangebot viel umfangreicher war. Irgendwoher mußte Angela Merkels Dauergrinsen ja kommen. Und warum Barack Obama permanent den puritanischen Vereinigten Staaten entfloh und auf Besuch in Berlin weilte, auch das konnte man sich leicht denken. Von wegen große Weltpolitik.
„Du, Angie, hast du noch von dem Gras, das wir letztens …“
Merkel: „Aber logo, mein lieber Oba, das steht doch säckeweise bei uns im Keller. Was glaubst du, warum der Bundestag so gut bewacht ist? Wollen wir noch einen durchziehen, bevor wir uns den Fotografen stellen?“
Obama: „Yes, we can.“
Merkel: „Und wenn du demnächst in den Vatikan reist, sag dem Joseph Ratzi einen schönen Gruß von mir, die Sendung sei unterwegs. Das Codewort dort heißt übrigens Waterpipe. Ratzi weiß dann schon Bescheid und überläßt dir ein paar Allererste-Sahne-Joints. Die hat er vom BKA. Und sieh zu, daß du mit Ratzi ein Vaterunser betest. Das ist so eine Marotte von ihm, wenn er stoned ist.“
Obama: „Ach, I understand, deswegen auch immer die komischen Rauchwolken bei der Papstwahl.“
Merkel: „Siehst du, Oba, ist doch gar nicht so schwer zu kapieren. Für einen Ami bist du echt verdammt clever. Nicht so wie dein Vorgänger, dieser kleine Hinterwäldler. Der hieß nicht nur Bush, sondern kam auch von dort. Gekifft hat der auch nicht, immer nur gesoffen wie ein Loch. Kein Wunder, daß der Kleine so verbiestert war. Wart’s nur ab, bis wir Afghanistan befreit haben. Diese Anbauflächen dort …“
Und während sich Herr Schweitzer einen wegen des Kompliments peinlich berührten US-Präsidenten vorstellte, kehrten auch seine Lebensgeister zurück. Positive Energie durchströmte seinen Körper. Frohgemut machte er sich auf die Suche nach Maria. Wo steckte sie bloß? „Maria!“
Zuerst ging er in die als Bildhauerwerkstatt umfunktionierte Garage, wo Maria die meiste Zeit verbrachte und ihre Kreativität auslebte. Aber dort war sie nicht.
Herr Schweitzer fand seine Freundin schließlich auf der Veranda im Schneidersitz vor dem Jugendstil-Vertiko hockend. Ach, stimmt ja, erinnerte er sich, Maria wollte an dem Teil noch ein paar kleinere Reparaturen vornehmen, bevor es dem Wohnzimmer zur Zierde gereichte. Im Gegensatz zu ihm hatte sie nämlich keine zwei linken Hände. Herr Schweitzer bückte sich, um den obligatorischen Guten-Morgen-Kuß einzufordern. „Hallo Schatz, was liest du denn da?“
Maria hielt eine ziemlich vergilbte Zeitung in der Hand. „Guten Morgen, Dickerchen. Guck mal, damit war das Vertiko ausgelegt. Eine Frankfurter Rundschau vom 6. Juli ’89. Hier wird ausführlich vom Tian’anmen-Massaker berichtet. Wie die Zeit vergeht. Mir kommt’s vor, als wäre es erst letztes Jahr passiert.“
„Tian … was für ein Massaker?“
„Tian’anmen. Peking. Platz des Himmlischen Friedens. Der Aufstand in China.“
„Ach, zwanzig Jahre schon. Wow.“ Herr Schweitzer ließ sich in den Korbsessel fallen.
„Und hier im Lokalteil, lies mal.“ Maria überreichte ihm den Artikel, der mit der Überschrift ‚Tragischer Unfall am Kuhhirtenturm’ begann.
„Schau mal einer an. So langsam wird mir
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