Das Geheimnis von Digmore Park
losgebunden, und dann machte sich die Gestalt auf einen weiten Weg. Wenn der Mann gut vorankam und nur kurze Pausen einlegte, dann würde es dennoch mindestens einen ganzen Tag dauern, bis er sein Ziel erreichte. Jupiter begrüßte den ihm vertrauten Reiter mit einem glücklichen Wiehern, und dann schien es, als würde auch er den flotten Ritt durch die abendliche Landschaft genießen.
Das Gefühl, das Elizabeth verspürte, als sie aus einem kurzen, unruhigen Schlaf geweckt wurde, war überwältigend. War sie wirklich schon wach? Oder war das wieder einer der Träume, aus denen sie so ungern gerissen wurde? Und die doch nichts als den schalen Nachgeschmack unerfüllter Hoffnung zurückließen? Nein, es gab keinen Zweifel, das, was hier so überraschend geschah, war Wirklichkeit! Lippen hatten sich zärtlich auf ihren Mund gelegt. Da sie die Augen noch immer geschlossen hielt, hatte sie den Mann, der sie küsste, noch nicht gesehen, und doch wusste sie, wer er war. Lady Bakerfield hatte sie doch nicht etwa im Turmzimmer eingesperrt, um ihr ein Tête-à-Tête mit Major Dewary zu ermöglichen? Hatte er sie etwa darum gebeten? Nein, sie konnte nicht glauben, dass die beiden unter einer Decke steckten! Gewiss war es so, dass er gekommen war, um sie aus dem Turmzimmer zu befreien! Wie der Ritter aus dem Märchen würde er sie vor sich auf den Sattel seines weißen Pferdes setzen und mit ihr in die Nacht hinaus galoppieren, zu seinem Märchenschloss, wo sie beide glücklich werden würden bis ans Ende ihrer Tage! Was für eine traumhafte Vorstellung! Elizabeth verdrängte, dass der Major zwar eine Verlobte, dafür aber kein weißes Pferd sein Eigen nannte und dass sie sich bereits in dem Märchenschloss befanden, in das er sie hätte bringen können. Glücklich schlang sie die Arme um seinen Hals. Als der Prinz spürte, dass die Prinzessin seinen Kuss erwiderte, da stöhnte er kurz auf, zog sie näher an sich, und der Kuss wurde noch um einiges inniger. Gleich würde er ihr seine Liebe gestehen, dachte Prinzessin Elizabeth, die Augen noch immer geschlossen, völlig versunken in dieses unbekannte Hochgefühl. Doch da wurde sie jäh losgelassen und ihr Kopf fiel auf das Kissen zurück. Sie riss die Augen auf.
Auch seine Worte fügten sich so gar nicht in ihr romantisches Traumbild.
„Entschuldigen Sie …“, stammelte er, „entschuldigen Sie, Miss Porter, ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahe treten! Es war unverzeihlich von mir, Ihre Wehrlosigkeit auszunutzen …“
Unsanft wieder in der Wirklichkeit angekommen, rieb Elizabeth sich die Augen und blickte sich um. Sie war noch im Turmzimmer, an ihrem Bettrand kniete Major Dewary, so wie junge Männer zu knien pflegten, wenn sie der Dame ihres Herzens einen Antrag machten. Doch seine Miene zeigte nichts als Bestürzung. Schade, der Traum hatte Elizabeth so viel besser gefallen. Doch sie war zu stolz, um ihm ihre Enttäuschung auf die Nase zu binden. Schwungvoll setzte sie sich auf und ordnete mit ein paar schnellen Griffen ihre Haare.
„Es ist gut, Major Dewary, wir wollen beide diesen Vorfall vergessen. Es besteht daher kein Anlass, sich über die Maßen in Gewissensbissen zu ergehen.“
„Sie sind sehr großzügig, Miss Porter, dennoch war es unverzeihlich von mir, Ihnen meine Nähe aufzuzwingen. Doch Sie sahen so wunderschön aus … als ich Sie hier so unvermutet antraf … Sie lächelten im Schlaf, Miss Porter. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Ihre Lippen küssen.“
Diese Worte brachten das zauberhafte Lächeln auf Elizabeths Gesicht zurück, und es war Major Dewary anzumerken, dass es ihm schwerfiel, sie nicht gleich wieder in seine Arme zu nehmen.
„Wir dürfen nicht, ich darf nicht. Ich schwöre, ich gäbe viel darum, dass es anders wäre, doch ich bin ein gebundener Mann. Meine Verlobte erwartet mit Recht die Treue, die zu halten ich ihr geschworen habe.“
Er stand auf und setzte sich neben sie aufs Bett. „Was machen Sie eigentlich hier im Turmzimmer, Miss Elizabeth? Hat es Ihnen in Ihrem Gästezimmer nicht gefallen? Wer hat Ihnen den versteckten Eingang gezeigt?“
„Sie wussten gar nicht, dass ich da bin?“, stellte Elizabeth mit ehrlichem Erstaunen und mit steigender Enttäuschung fest. „Und ich dachte, Sie seien gekommen, um mich zu retten!“
Seine Miene wurde ernst. „Sie zu retten? Wovor zu retten?“
„Davor, hier jämmerlich zugrunde zu gehen, zu verhungern und zu verdursten!“
Dewary zeigte lachend auf die volle
Weitere Kostenlose Bücher