Das Geheimnis von Digmore Park
zu sein. Seine Lordschaft zeigte sich charmant, stellte Fragen und war, sehr zur Verwunderung seines jungen Freundes, tatsächlich ein Kenner von Antiquitäten. Vor allem der silberne Tafelschmuck und Papas wertvolle Sammlung emaillierter Schnupftabakdosen hatten es ihm angetan. Ob auch sie es ihm angetan hatte? Elizabeth wusste es nicht, doch sie wünschte sich, es wäre so! Lord Linworth war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Er schien über einen wachen Verstand zu verfügen und langweilte sie nicht mit seiner Abstammung wie … ein gewisser anderer Herr, an den sie jetzt lieber nicht denken wollte.
Wie auf Kommando war von fern der Hufschlag eines einzelnen Pferdes zu vernehmen. Elizabeth zog die Luft ein. Heute blieb ihr wirklich nichts erspart! Obwohl der Reiter noch nicht aufgetaucht war, konnte sie ihn förmlich vor sich sehen: etwas schief auf seinem viel zu schmalbrüstigen Ross, die Hemdkrägen gestärkt wie ein Brett und so hoch aufgerichtet, dass er nicht mehr in der Lage war, seinen Kopf zu drehen, ohne die mühevoll errichtete Pracht zu verderben. Im Geiste sah sie sein blasses Gesicht mit dem verbitterten Zug um die schmalen Lippen und darunter die breiten Schultern, die nur deshalb so breit waren, weil der Kammerdiener den Rock seines Herrn mit übergroßen Schulterpolstern ausgestattet hatte. Noch hatte sie einen Funken Hoffnung, sich geirrt zu haben. Vielleicht hatte sich Lord Linworth ein Pferd geliehen und kam von einem Ausritt zurück? Vielleicht hatte sich Billy für ein paar Stunden von seinem Freund getrennt, dem er sonst wie ein Schatten folgte, um … Der Reiter trabte aus dem Schatten der hohen Bäume ins abendliche Licht des Vorplatzes, und alle Hoffnung löste sich in Luft auf. Es war Charles Bavis, ihr hartnäckiger Verehrer. Elizabeth umklammerte die Rosen, die sie bereits abgeschnitten hatte. Die spitzen Dornen bohrten sich durch die Lederhandschuhe hindurch in ihre Handfläche. Das trug nicht dazu bei, ihr Gemüt zu beruhigen. Sie wollte nicht, dass Linworth Bavis sah. Sie wollte nicht, dass irgendjemand Bavis sah. Und am allerwenigsten wollte sie selbst ihn sehen. Jetzt nicht. Und auch in Zukunft nicht mehr! Es war höchste Zeit, dass sie ihm das klarmachte. Heute war sie in der richtigen Stimmung, ihm eine Abfuhr zu erteilen, die sogar ein arroganter, ignoranter, aufgeblasener Tölpel wie Charles Bavis verstehen musste.
Während sie wartete, bis Bavis näher kam, hoffte sie inständig, dass das das letzte Unerfreuliche war, was sie an diesem Tag erledigen musste. An einem Tag, der schon äußerst unerfreulich damit begonnen hatte, dass Billy beim Frühstück aus heiterem Himmel verkündet hatte, er würde die Grauen seines Vaters verkaufen. Das Gespann mit den vier edlen Pferden war Papas ganzer Stolz gewesen. Niemand hatte es so leichthändig zu lenken verstanden wie er. Nach Lord Portlands Tod hatte es der Stallmeister regelmäßig bewegt. Jetzt fiel diese Aufgabe John, dem ältesten Stallburschen, zu. Er war der Einzige im Haus, der das kapriziöse Gespann zu lenken in der Lage war. Billy war viel zu ungestüm, um vierer Pferde gleichzeitig Herr zu werden. Elizabeth hätte nichts lieber getan, als es einmal zu versuchen, doch das kam natürlich nicht in Frage! Sittenstrenge Nachbarn fanden es schon in höchstem Maße unschicklich, dass sie ihren Phaeton selbst lenkte. Und davor waren nur zwei Pferde angespannt! Eine junge Dame, die vierspännig unterwegs war? Nein, da würden sich auch die Wohlmeinenden die Mäuler zerreißen. Dennoch hatte sie sich in aller Deutlichkeit gegen Billys Vorhaben ausgesprochen. Fassungslos musste sie zur Kenntnis nehmen, dass Billy, ihr kleiner Bruder Billy, der sich sonst in allem nach ihrer Meinung richtete, ihre Einwände einfach vom Tisch wischte. „Elizabeth, jetzt sei doch nicht so sturköpfig! Was für einen Sinn soll es haben, vier Pferde dieser Güte unnütz im Stall herumstehen zu haben?“
Das war allerdings ein Argument, dem sie sich nicht verschließen konnte.
„Wir müssen handeln, bevor die Tiere zu alt werden und sie niemand mehr haben will. Noch bringen sie gutes Geld ein.“
So schnell gab sie sich nicht geschlagen. Hier ging es nicht nur um Gründe der Vernunft. Hier ging es um Papas Andenken. „Die Grauen waren Vaters Lieblingspferde, Billy. Sein ganzer Stolz. Ich bringe es nicht übers Herz, sie in fremde Hände zu geben.“
Billy hatte sich in seinem Stuhl aufgerichtet und antwortete nun in einem Tonfall,
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