Das Geheimnis von Digmore Park
Elizabeth riss sich von seinem Anblick los und nahm noch einmal das Pferd in Augenschein, um sicherzugehen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Der Mann schwieg immer noch.
„Wie kommen Sie dazu, Vaters Pferd zu reiten?“, fragte sie scharf. Erschrocken biss sie sich auf die Lippen. Das war nicht der freundliche Gruß, mit dem sie den Fremden eigentlich hatte willkommen heißen wollen. Sein gelangweilter Blick hatte sie doch mehr irritiert, als sie zugeben wollte.
„Ihnen auch einen schönen guten Morgen, Miss Porter“, lautete seine Antwort. Er hielt es nun doch für angebracht, sich aus dem Sattel zu bemühen. „Seine Lordschaft ist bedauernswerterweise nicht mehr in der Lage, dieses Pferd zu reiten, nicht wahr? Dennoch muss es bewegt werden. Die Burschen waren in den letzten Monaten in dieser Hinsicht zu nachlässig.“
Elizabeths Augen weiteten sich: Diese Stimme kannte sie. Doch das Bild, das sie mit dieser Stimme verband, war ein anderes als das des gutaussehenden Mannes, der so selbstsicher und lässig vor ihr stand, als wäre er ein Herr der besseren Gesellschaft. Das Bild, das sie mit dieser Stimme verband, war das eines mittelalterlichen Mönches mit furchteinflößendem Vollbart und grober brauner Kutte. War das tatsächlich ihr Stallmeister? Warum, verflixt noch mal, sah er dann nicht aus, wie ein Stallmeister auszusehen hatte? Und warum benahm er sich nicht wie einer? Es würde weit schwieriger sein, so einem Stallmeister Befehle zu erteilen, als sie angenommen hatte! Er war so … männlich. Und sah heute viel jünger aus als am Tag seiner Ankunft. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, Anordnungen zu geben. Doch ihre Dienerschaft hatte bisher aus Frauen bestanden, aus jungen Burschen und aus alten Männern. Noch nie hatte sie einen Diener gehabt, der kaum dreißig Jahre alt war. Und mit Sicherheit hatte sie noch nie einen Diener, der ihr mit so viel Selbstbewusstsein, aber auch mit so viel Distanz entgegentrat. Sie war es gewohnt, bei allen beliebt zu sein, sie war es gewohnt, dass ihr Wort auf Portland Manor etwas galt. Doch dieser Mann hier behandelte sie weder mit Bewunderung noch mit dienender Demut. Hatte sie wirklich an seinem Vollbart Anstoß genommen? Nun, das hatte sich jedenfalls erledigt, und sie stand vor ganz neuen Schwierigkeiten. Sie beschloss, einen Versuch zu wagen, ihn in seine Schranken zu weisen.
„Ihr eigenmächtiges Verhalten ist nicht in meinem Sinne, Mr. Michaels. Ich wünsche, dass Sie Ihre Tätigkeiten mit mir abstimmen.“ Als sich an seinem gelangweilten Blick nichts änderte, setzte sie noch eins drauf: „Und lassen Sie gefälligst Ihre Finger von Summerwind. Dieses Pferd reite nur ich und sonst niemand. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“
Mr. Michaels deutete eine Verbeugung an: „Sie sind also wieder in der Lage zu reiten? Das freut mich zu hören, Miss Porter. Wir haben Ihr Pferd jeden Tag in der Koppel im Kreis geführt …“
„ Was haben Sie getan? Ich wünsche, dass Sie mich fragen, bevor Sie mit Summerwind irgendetwas tun. Das Tier hat ein krankes Bein. Ich habe ausdrücklich befohlen, dass es geschont wird.“
Je aufgeregter sie wurde, desto ruhiger wurden seine Antworten: „Ein Pferd gehört bewegt.“
Elizabeth schnaubte unwillig. Natürlich gehörte ein Pferd bewegt, das wusste sie auch. Und auf einmal wurde ihr klar, wie unberechtigt ihr Ausbruch gewesen war. Wie brachte sie dieser Mann nur dazu, dass sie sich von ihrer schlechtesten Seite zeigte? Sie war doch sonst stets so besonnen. Noch nie hatte sich ihr Tonfall so befehlend, ja geradezu keifend angehört wie eben jetzt. Wie sollte sie sich jetzt am besten verhalten? Sollte sie sich etwa für ihr Benehmen entschuldigen? Sie wollte unbedingt etwas Versöhnliches sagen. Wie tat man das, ohne Schwäche zu zeigen? Sie musste ihm ein für alle Mal zu verstehen geben, dass sie die Herrin dieses Anwesens war. Doch wie wies man einen Mann in die Schranken, der einen um zwei Köpfe überragte? Und dessen Miene weiterhin höflich, jedoch alles andere als unterwürfig war? Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
„Summerwind hat sich am rechten Vorderbein verletzt. Wenn Sie genau hingesehen hätten, dann hätten Sie das bemerkt. Es ist nur ein kleiner Kratzer, aber auch der kann böse Folgen haben.“
„Es ist nicht der Kratzer, der dem Pferd zu schaffen macht.“
Elizabeth hörte ihm nicht zu. „Mr. Simmons hat solche Wunden immer mit einer Paste aus Ringelblumen bestrichen. Ich habe
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