Das Geheimnis von Digmore Park
lenken.“
Dewary traute seine Augen nicht. In dem Blick, den ihm Miss Porter zugeworfen hatte, war ohne Zweifel Bewunderung zu lesen! Diese Frau war ihm ein Rätsel. Vielleicht hatte er sich aber auch geirrt. Sie hatte sich bereits wieder abgewandt und schien sich voll und ganz den Pferden zu widmen.
In Wirklichkeit nahm Elizabeth die Pferde auf der Weide gar nicht richtig wahr. Dafür erfreute sie sich an dem Bild vor ihrem geistigen Auge. Wie ihr Stallmeister aufrecht auf dem Kutschbock saß und die vier Grauen mit lässiger, aber doch fester Hand durch die Alleen der Grafschaft lenkte. Zu schade, dass sie in nächster Zeit nicht verreiste. Es wäre ein Vergnügen gewesen, neben ihm auf dem Kutschbock zu sitzen und seine Fertigkeiten hautnah mitzuerleben! Jetzt hielt sie es aber doch für angebracht, ihrer Euphorie einen Dämpfer zu verpassen. Nicht einmal ihre abenteuerlustige Mama würde gestatten, dass sie auf dem Kutschbock Platz nahm. Auf Reisen war der Platz einer Lady natürlich im Inneren der Kutsche.
„Hat Ihr Bruder schon einen Käufer im Auge?“
Elizabeth fuhr aus ihren Gedanken auf. „Er hofft, diesen im Haus von Lord Willowby zu finden. Billy und Lord Linworth weilen derzeit auf dessen Landsitz. Wildrose Manor liegt knappe zwei Stunden schnellen Ritts von hier entfernt im Norden der Stadt. Ich erwarte die beiden morgen zurück. Dann werde ich Näheres erfahren.“
Es war Dewary schwergefallen, ihre Worte nicht mit der fassungslosen Frage zu unterbrechen: „Linworth kommt hierher?!“
Er konnte nur hoffen, dass sein Erstaunen, ja seine Erschütterung, nicht allzu offensichtlich gewesen war. Was um alles in der Welt trieb den schönen Lord Linworth in diese abgeschiedene Gegend? Ihn, einen der verwöhntesten und dünkelhaftesten Dandys, die er kannte? Und was, um alles in der Welt, trieb ihn dazu, mit seinen nun sicher auch schon neunundzwanzig Jahren die Freundschaft eines Siebzehnjährigen zu suchen?
„Sie kennen Seine Lordschaft?“
Rasch schüttelte Dewary den Kopf. „Nein, selbstverständlich nicht!“
Das war gelogen. Linworth war wie er Mitglied bei „Whites“, dem angesehensten Londoner Club für Adelige. Es bestand keine Hoffnung: Der unselige Dandy würde ihn mit Sicherheit erkennen! Das war das Letzte, was er im Augenblick gebrauchen konnte. Linworth war ein altes Klatschweib. Ehe er es sich versah, wusste das ganze Land, dass Major Dewary wieder auf der Insel war und sich als Stallmeister verdingte, um der gerechten Strafe zu entgehen. Diese Gefahr ließ ihm geradezu die Haare zu Berge stehen.
„Wie lange planen die beiden Herren hierzubleiben?“, erkundigte er sich etwas atemlos. Elizabeth war erstaunt, dass er sich dafür interessierte. „Leider nur mehr ein, zwei Tage, dann werden sie bei Lord Linworths Tante erwartet.“
Dewary verzog spöttisch die Lippen und dachte: Aha, daher weht der Wind. Linworth war wieder einmal auf der Suche nach einem Erbe, das es zu erschleichen galt. Als er vor ein paar Jahren völlig unerwartet das Vermögen seines Onkels geerbt hatte, hatte die Londoner Gesellschaft damit gerechnet, dass er für den Rest seines Lebens ausgesorgt hatte. Doch die Londoner Gesellschaft hatte sich anscheinend geirrt. So unmoralisch Linworths Verhalten seiner Tante gegenüber auch sein mochte, ihm konnte es nur recht sein, wenn die beiden Herren rasch wieder abreisten. Ein, zwei Tage würde er sich schon vom Herrenhaus fernhalten können.
Die nächsten Minuten standen sie schweigend an der Koppel und beobachteten die Pferde. Diesen schien der unerwartete Auslauf gut zu bekommen. Mr. Simmons hatte stets darauf bestanden, dass die Kutschpferde im Stall blieben, wenn sie nicht vor den Wagen gespannt waren.
„Es ist nicht gut, ihnen zu viel Freiraum zu lassen, Miss Elizabeth“, hatte er ihr erklärt, „Kutschpferde brauchen Disziplin und Ordnung, um nicht zu verwildern.“
Mr. Michaels schien anderer Meinung zu sein, und wenn sie die Tiere jetzt so sah, dann konnte sie ihm nur recht geben. Einer der Grauen kam zu ihr herüber und stupste sie sanft in den rechten Oberarm.
Elizabeth lächelte. „Ich habe nichts mit für dich, mein Lieber. Ich werde mir wirklich angewöhnen, Möhren oder Äpfel mitzubringen, wenn ich das nächste Mal hierherkomme.“
Sie lächelte zu ihrem Stallmeister hinüber, und dieser lächelte wider Willen zurück. Miss Portland zeigte sich diesmal von einer so weiblichen, ja geradezu weichen Seite, die er ihr gar nicht zugetraut
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