Das Geheimnis von Digmore Park
Er kam sich vor wie das Oberhaupt einer großen Familie. Er konnte geradezu vor sich sehen, wie er am Kopfende des großen Eichentisches auf Digmore Park saß, neben sich seine geliebte Gemahlin, die dunklen Locken aufgesteckt, daneben Freunde und Verwandte. Sobald seine Kinder einmal das Kleinkindalter hinter sich gebracht hätten, würde er ihnen erlauben, mit am Tisch zu sitzen. Alles würde so wie früher sein, als Mama noch lebte. Damals hatten sie sich jeden Abend zu den Mahlzeiten versammelt. Vater hatte den Vorsitz innegehabt, viel jünger und kraftvoller als heute. Rechts von ihm hatte Mama gesessen, stets dazu aufgelegt, die Gesellschaft mit heiteren Anekdoten zu amüsieren, und zu seiner Linken seine Schwester Irene. Oft war Tante Barbara zu Besuch gewesen, die Schwester seines Vaters. Sie war seine Lieblingstante, und er hatte sich immer gefreut, sie zu sehen. Besonders, wenn sie allein kam, ohne Onkel Edward. Ihren verstorbenen Mann hatte er nie leiden können. Und als dieser mit zunehmendem Alter immer mehr der Trunksucht verfiel und wegen jeder Kleinigkeit dermaßen in Rage geriet, dass er seine Frau verprügelte, da hatte er ihn nachgerade gehasst. Eines Abends hatte der Onkel mit Freunden ordentlich dem Wein zugesprochen und dann seine Kutsche auf der schneeglatten Straße eigenhändig nach Hause lenken wollen. Dabei verfehlten die zu viel zu schnellem Galopp angetriebenen Pferde die Brücke, und die Kutsche stürzte in das eiskalte Wasser des Flusses. Wenn es Anlass zur Trauer gab, dann nur deshalb, weil auch die beiden Pferde auf diese Weise ums Leben gekommen waren. Tante Barbara war nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Bruder nach Digmore Park übersiedelt und ihrer Anwesenheit war es wohl zu verdanken, dass sein Vater nach dem Tod seiner geliebten Frau, nur kurze Zeit später, nicht den Lebensmut verlor. Das Einzige, was Dewary an Tante Barbara nicht mochte, war ihr Sohn, sein Cousin Edward. Ein aufgeblasener, herrischer Mann, der in seinem Temperament viel mehr seinem Vater glich als seiner sanftmütigen Mutter. Zum Glück kam Edward sehr selten nach Digmore Park. Wenn er jedoch kam, dann ging er mit stolzgeschwellter Brust durch sämtliche Räume. Anscheinend fühlte er sich bereits als der neue Hausherr, der er auch sein würde, wenn er, Dewary, kinderlos starb. Was er, Dewary, zu verhindern wissen würde.
„Mr. Michaels, stimmt etwas nicht mit dem Yorkshire Pudding?“
Mrs. Gelderways besorgte Frage ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Jetzt hatte er doch für einen Moment völlig vergessen, wo er war. Und in Gedanken an seinen Vetter verbissen an einem Stück Brandteig herumgekaut. Schnell schenkte er der Köchin sein charmantestes Lächeln. „Es ist alles wunderbar, Mrs. Gelderway. Danke für dieses herrliche Essen.“
Eine halbe Stunde später stand Dewary wieder an der Koppel. Er lehnte sich an den groben Holzzaun und sah zu den Pferden hinüber. Ein kleines Lächeln trat auf seine Lippen. Gab es etwas Schöneres, als diesen edlen Tieren beim Grasen und Spielen zuzusehen? Gab es etwas Schöneres, als an diesem strahlenden Junitag in England zu sein, unter heimischem Himmel? Nach der von der Sonne verbrannten spanischen Erde genoss er das saftige Grün der Wiesen. In seiner Jugend hatte er weder die blühenden Hecken noch die dichten Wälder seiner Heimat jemals bewusst wahrgenommen. Früher war alles eine Selbstverständlichkeit gewesen. Mit einem Schlag erfüllte ihn ein tiefes Gefühl von Freude. Es war seit Langem überfällig gewesen, seinen Abschied von der Armee zu nehmen. Der Schmerz und der verletzte Stolz über Abigails Abfuhr hatten sich längst in ungläubiges Kopfschütteln darüber verwandelt, wie er je so vernarrt in die völlig falsche Frau hatte sein können. Er sehnte sich nach Digmore Park. Noch lebte sein Vater, es war höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren. Zudem war es seine Pflicht als zukünftiger Hausherr, dort nach dem Rechten zu sehen. Wenn es ihm schon so viel Freude bereitete, hier auf dem völlig fremden Anwesen einer völlig fremden Familie Porter die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, wie viel mehr Glück und Befriedigung würde es erst bedeuten, dies auf seinem eigenen Grund und Boden zu tun? Er würde sein Haus in der Half Moon Street wieder aufsperren lassen, um die Saison in der Hauptstadt zu verbringen. Es war höchste Zeit, dass er sich wieder einmal in seinem Club blicken ließ! Wie mochte es wohl all den Bekannten ergangen sein in den
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