Das Geheimnis von Digmore Park
letzten Jahren? Mit einem Mal verloren die Schwierigkeiten, die vor ihm lagen, an Gewicht und Wichtigkeit. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, also würde es ein Leichtes sein, den anderen seine Unschuld zu beweisen! Am liebsten hätte er laut aufgejubelt. Er fühlte sich so jung, so unbeschwert. Auch wenn er derzeit noch auf Portland Manor weilte, in seinem Herzen war Major Dewary nach Hause zurückgekehrt.
Unterdessen hatte Joseph Elizabeth verraten, wo sie den Stallmeister finden würde. Sie bog um die Ecke und sah seine großgewachsene Gestalt auch schon an der Koppel stehen. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass er lachte. Er wirkte entspannt und gelöst und … unglaublich anziehend. Kurz verschlug es ihr den Atem. Hatte sie jemals einen so gutaussehenden Mann gesehen? Keiner der eleganten Herren in den Ballsälen von Winchesters vornehmsten Familien konnte mit ihm mithalten. Linworth konnte sich von seinem Auftreten eine gute Scheibe abschneiden! Elizabeth verharrte einen Moment und schalt sich für ihre Gedanken. War sie verrückt geworden? Vor ihr stand ihr Stallmeister, keineswegs konnte sie einen Dienstboten anziehend finden! Sie war seine Herrin, er ihr Diener, verpflichtet, ihr zu gehorchen. Sie sah zu dem großen Mann beim Holzzaun hinüber und wusste, wie lächerlich dieser Gedanke war. Dieser Mann gehorchte niemandem außer seinen eigenen Gesetzen. Und das machte ihn so begehrenswert. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es war unglaublich, sie wagte nicht einmal, es vor sich selbst zuzugeben: Doch sie hatte sich Hals über Kopf in Freddy Michaels verliebt. Clara würde es ihr nie im Leben glauben, wenn sie ihr davon erzählte. Nein, sie würde es ihr niemals erzählen. Eine derartige Ungeheuerlichkeit konnte man nicht einmal der besten Freundin anvertrauen!
10. Kapitel
In diesem Augenblick drehte sich Dewary zu ihr um, und das Lächeln verschwand schlagartig von seinen Lippen. Wie lange beobachtete sie ihn schon, und was versprach sie sich davon? Spionierte sie ihm nach? Wollte sie sich vergewissern, dass er Summerwind nicht gegen ihren ausdrücklichen Willen sattelte und mit ihm über die Felder galoppierte? Wenn sie ihn schon für einen derart verantwortungslosen Idioten hielt, warum hatte sie dann nichts Besseres zu tun, als hier zu stehen und ihn von Weitem anzustarren? Er erinnerte sich an seine Stellung, deutete eine Verbeugung an und sagte nicht übermäßig freundlich: „Ihr Diener, Miss Porter. Wieder einmal.“
Hatte Elizabeth wirklich gedacht, sie könne diesem Mann mit einem einstudierten huldvollen Lächeln entgegentreten? Die unerwartete Schüchternheit, die sie anlässlich ihrer Erkenntnis erfasste, ließ ihre Stimme leiser und unsicherer erscheinen, als sie sich das gewünscht hätte.
„Lassen Sie sich von mir nicht stören, Mr. Michaels. Ich wollte nur nach Summerwind sehen. Sein Bein macht mir ernsthaften Kummer.“
Sie war näher gekommen und hatte sich nun ebenfalls zum Zaun gestellt, mit gebührendem Abstand, selbstverständlich. Seine Nähe trug nicht eben dazu bei, dass sie ihre Selbstsicherheit zurückgewann. Dewary sah ihr unsicheres Lächeln und hörte den weichen Tonfall in ihrer Stimme. Erstaunt hob er die rechte Augenbraue. Was war denn mit Miss Porter geschehen? Die einzige Erklärung für ihr Verhalten war, dass sie sich ernstlich um ihr Pferd sorgte, ein Umstand, der sie in seiner Achtung ein Stück steigen ließ. Nicht allzu viel, doch immerhin so viel, dass er ihr von seinem Plan erzählte, den Huf mit einem Umschlag aus frisch aufgeschnittenen Zwiebeln zu behandeln. Das würde dem Pferd zwar Schmerzen bereiten, die Wunde aber auch viel besser reinigen als die Zwiebellösung.
Elizabeth sah ihn mit großen Augen an. „Es ist erstaunlich, was Sie alles wissen, Mr. Michaels.“ Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie keinen Zweifel daran hatte, dass er wusste, wovon er sprach. Nicht einmal Mr. Simmons hatte ihr unumschränktes Vertrauen gehabt, wenn es um ihr geliebtes Pferd ging. Wie war es Mr. Bishop bloß gelungen, Mr. Michaels über Nacht aus dem Hut zu zaubern? Eben hatte sie ihn noch nach einem Stallmeister gefragt, schon brachte er ihr einen Mann mit so vielen Talenten und Fähigkeiten.
„In Dig…, dort, wo ich aufgewachsen bin, gab es einen alten Mann. Alle nannten ihn ‚den Weisen’“, begann Dewary zu erzählen. Seine Stimme hatte den Unterton verloren, mit dem er Elizabeth bisher begegnet war. „Er wusste auf alle Fragen des Lebens die passende
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