Das Geheimnis von Islay Island
Waddingtons Schreie dank der dichten abschüssigen Böschungen jetzt nur noch gedämpft zu hören. Doch ich war noch nicht in Sicherheit. Das Rauschen und Plätschern des kleinen Wasserfalls in einiger Entfernung vor mir würde die Geräusche eines Verfolgers vollständig übertönen. Jeden Moment musste ich damit rechnen, entdeckt zu werden und von einer Kugel in den Rücken – samt Gorgonzola – getötet zu werden. Ich nahm den Rucksack ab und öffnete den Reißverschluss so weit, dass sie sich notfalls hinauszwängen konnte: Falls ich getroffen wurde, hätte sie noch eine Chance. Ich behielt den Rucksack vor meiner Brust und umklammerte ihn mit beiden Armen, während ich über die Felsen am Fuß des Wasserfalls balancierte.
Zeng! Es fiel ein Schuss, und sein Echo wurde mehrmals zwischen den senkrechten Uferwällen hin und her geworfen. Moran war in die Schlucht heruntergestiegen und pirschte sich, das Gewehr im Anschlag, an mich heran. Ich duckte mich unter einen Felssims, den winterliche Sturzbäche in Jahrtausenden gemeißelt und glatt poliert hatten. Ich saß in der Falle.
Ich schloss die Augen, um mich ganz auf Geräusche zu konzentrieren. Wackelte da ein loser Stein? Klickte es gerade beim Entsichern? Das Wasserrauschen machte jegliche Bestimmung unmöglich.
Endlich waren die entsetzlichen Schreie verstummt, die ich selbst hier noch hatte hören können. Waddington musste es gelungen sein, sich aus dem Tellereisen zu befreien. Auch wenn er vorgehabt hatte, mich zu töten, wünschte ich ihm diese Qualen nicht. Es war ihm kaum eine Wahl geblieben. Ich konnte Morans Drohung nicht vergessen: »Ich dulde keine Fehler. Wenn wir sie nicht erwischen, stehen Sie als Nächstes in der Schusslinie.«
Plötzlich wurde mir klar, dass genau das passiert war: Der Schuss war nicht auf mich, sondern auf Waddington abgefeuert worden, und es war dabei nicht darum gegangen, ihn von seinem Leiden zu erlösen. »Ein Fehler zu viel«, könnte John Waddingtons Grabspruch lauten. Ich brauchte keinen weiteren Beweis dafür, dass Moran vor nichts zurückschreckte.
Weitere Schüsse blieben aus. Waddington war tot, und Moran verfolgte mich nicht weiter durch die Schlucht. Er hatte wohl das Naheliegende angenommen und rechnete stromabwärts mit mir. Das verschaffte mir ein wenig Vorsprung, doch ich wusste, dass jede Minute kostbar war. Ich verließ das Versteck unter dem überhängenden Fels und machte mich daran, durch das Geröll neben dem Wasserfall zu klettern.
Nachdem ich die Schlucht hinter mir gelassen hatte, entfernte ich mich vom Bachlauf und stieg über hügeliges Gelände in Richtung meines Treffpunkts mit Sandy, während ich um Allt an Damh einen großen Bogen machte. Zwar war die Versuchung groß, die schnellste Route durch die Wälder und über die Einfahrt zu nehmen, doch da würde mich die auf das Tor gerichtete Überwachungskamera einfangen. Es war jetzt elf Uhr dreißig, eine halbe Stunde später als verabredet. Ob Sandy wohl auf mich gewartet hatte?
Ich erklomm die letzte Erhebung. Unter mir sah ich den zerfurchten Feldweg, der zur Küste hinunterführte, und seitlich davon unseren verabredeten Treffpunkt, einen von einem Blitz zersplitterten Baum.
Doch von Sandys Wagen war weit und breit nichts zu sehen. Nicht die geringste Spur.
15
M ich verließ der Mut. Plötzlich merkte ich, wie erschöpft ich war. Der Gedanke an Sandy, der mir versprochen hatte, mich auf dem schnellsten Wege zu dem Cottage-Versteck, zu bringen, hatte mir Kraft gegeben, doch jetzt … Ich schleppte mich weiter hinunter und versuchte mir einzureden, dass wir streng genommen keinen genauen Zeitpunkt für unser Treffen verabredet hatten, dass er vielleicht durch eine Reifenpanne aufgehalten wurde, verschlafen hatte oder … In Wahrheit wollte ich der Tatsache nicht ins Auge sehen, dass er gekommen war, gewartet und es irgendwann aufgegeben hatte. Dass er schließlich wieder weggefahren war.
Als ich am Wegrand stand, traf mich die Erschöpfung mit ganzer Wucht. Mir lief eine Träne die Wange herunter. Wütend wischte ich sie ab. »Sei nicht so zimperlich, DJ «, schniefte ich.
Von irgendwo unterhalb des zersplitterten Baums war leises Kichern zu hören. »Aha, so heißen Sie also in Wirklichkeit!«
Ich versuchte ausfindig zu machen, wo genau er steckte, doch ein Meister der Tarnung macht es einem nicht gerade leicht. Erst jetzt entdeckte ich das Zeichen, das er für mich angebracht hatte. An einem Aststumpf hing ein zerbeulter
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