Das Geheimnis von Mulberry Hall
er verkniffen und nahm behände die zwei letzten Stufen nach oben. Wieder atmete er tief durch, bevor er den Schlüssel im Schloss drehte und die Tür mit einem Schwung aufstieß.
Sobald er den Marmorboden der riesigen Eingangshalle betrat, stieg Lucan ein modriger Geruch in die Nase, der vor einer Woche noch nicht da gewesen war. Der Wasserschaden, von dem John Barton berichtet hatte, wirkte sich also auf das gesamte Haus aus. Aber mit etwas Glück war zumindest das verflixte Porträt seines Vaters in der Ahnengalerie auf der Westseite zerstört worden!
„Lucan?“, drängte Lexie, nachdem er unschlüssig im Eingang stehen geblieben war.
„Entschuldige.“ Eilig trat er beiseite, um ihr den Weg frei zu machen.
Wenigstens war es innerhalb des Hauses etwas wärmer als draußen, wenn auch nur ein wenig. „Lebt hier denn niemand mehr?“, erkundigte sie sich im Flüsterton und sah sich interessiert um. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper, und sie schlang den Wollmantel etwas enger um sich.
„Schon seit Jahren nicht.“ Sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie seine Stimme. Schweigend schloss er die Tür hinter sich und sperrte so den eisigen Wind aus. „Ich gehe eben nach hinten und schalte die Heizung ein.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er kehrt und verschwand jenseits der Halle.
Aber Lexie hatte ihm ohnehin nichts zu sagen. Sie fühlte sich in diesem Gebäude genauso unwohl wie er, auch wenn sie sich bereits darin auskannte. Seit acht Jahren war sie nicht mehr hier gewesen, doch es sah nicht danach aus, als hätte sich seit dieser Zeit viel verändert.
Gigantische Kronleuchter aus venezianischem Glas hingen nach wie vor von den hohen Decken, und die beiden großen Eichentüren zu ihrer Rechten führten in eine altmodisch eingerichtete Wohnbibliothek und ein großzügiges Esszimmer, an dessen Eichentafel mindestens ein Dutzend Gäste Platz finden konnten.
Etwas weiter hinten führte eine Tür zum großen Spiegelsaal, der mit Leichtigkeit über hundert Menschen fassen würde. Mittlerweile war darin ein Sportstudio eingerichtet worden. Grandpa Alex hatte dort der neunjährigen Lexie seinerzeit Tischtennis und Billard beigebracht, und ihre sanftmütige Großmama hatte ihnen dabei zugesehen.
Traurig schluckte Lexie den Kloß in ihrem Hals hinunter. Es schmerzte, an glückliche Zeiten zurückzudenken, in denen die starren Mauern dieses Anwesens von Freude und Gelächter erfüllt waren. Lachen und Liebe, das empfand man immer, wenn man Nanna Sian und Grandpa Alex zusammen beobachtete.
Leider waren Lucan und der Rest seiner erbarmungslosen Familie nie ein Teil dieser Gemeinschaft gewesen.
Und vor wenigen Minuten hätte er beinahe die Enkelin der Frau geküsst, die er für das Unglück seiner Mutter verantwortlich machte.
Lexie begann stärker zu zittern, als sie sich vorstellte, wie er wohl auf die Wahrheit reagieren würde.
„Bald sollte es wärmer werden“, verkündete Lucan bei seiner Rückkehr und stutzte, als Lexie sich erschrocken zu ihm umdrehte. „Was ist denn los? Soweit ich informiert bin, haben wir hier keine Familiengeister herumschleichen.“
„Sehr witzig!“
„Man hat mir noch nie einen feinen Sinn für Humor nachgesagt, Lexie“, entgegnete er trocken.
„Kein Wunder. Gibt es in der Küche wenigstens Kaffee oder Tee, damit ich uns etwas Heißes zu trinken machen kann?“
Er legte den Kopf schief. „Gehört das denn zu deinen Aufgaben als vorübergehende Vertretung einer Vertretung meiner Privatsekretärin?“
„Wahrscheinlich nicht. Aber dieses eine Mal will ich gern eine Ausnahme machen.“
„Wie großzügig von dir“, spottete er und verkniff sich ein ehrliches Lachen.
„Finde ich auch“, sagte sie spitz.
Er konnte nicht anders, als ihre Haltung aufrichtig zu bewundern. Auch wenn seine Familie noch vor wenigen Tagen eine Hochzeit auf diesem Grund und Boden gefeiert hatte, war dieser Ort alles andere als heimelig. Es gab keine Haushälterin oder andere Angestellte mehr, nur den Verwalter und seine Frau, die von Zeit zu Zeit nach dem Rechten sahen.
Viele Frauen, vor allem der weibliche Bekanntenkreis Lucans, der ausschließlich aus höchst glamourösen Damen bestand, hätten sich unter diesen Umständen bitterlich beschwert oder sogar das Handtuch geworfen und auf ein komfortables Hotel bestanden. Aber die pragmatische Lexie war offenbar aus anderem Holz geschnitzt.
„Kaffee und Tee gibt es bestimmt, aber sicher keine Milch“, erklärte er
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