Das Geheimnis von Mulberry Hall
neugierig, das musst du verstehen.“ Es fiel unendlich schwer, sich zu erklären, solange er sie wie einen verhassten Eindringling musterte. Seine Arroganz war zurückgekehrt und schützte ihn vor jeglichen Gefühlseinbrüchen. „Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr wusste ich gar nichts von deiner Existenz. Aber dann erläuterte meine Mutter mir die ganze unglückliche Situation.“
„Ohne Zweifel weicht ihre Version von den Geschehnissen damals massiv von der ab, die mir geläufig ist“, sagte Lucan steif.
„Du warst damals erst elf Jahre alt.“
„Und dich hat man eingeweiht, als du vierzehn warst. Meinst du allen Ernstes, dass du das alles besser verstanden hast als ich?“
Natürlich hatte sie das nicht. Gerade in den vergangenen Tagen war Lexie erst völlig bewusst geworden, welche Tragweite die Liebschaft ihrer Großmutter gehabt hatte.
Seinerzeit war Lexie vierzehn gewesen, an der Schwelle zur vollen Pubertät. Und die Geschichte zwischen Nanna Sian und Grandpa Alex kam ihr natürlich unendlich romantisch und verwegen vor. Eine griechische Tragödie mit Happy End.
Mittlerweile hatte Lexie aber eine Vorstellung von der Bitterkeit bekommen, die Lucan aufgrund seiner Vergangenheit mit sich herumschleppte. Von der tiefen Traurigkeit, die ihn überfiel, sobald er das Antlitz seines Vaters erblickte. In der Ahnengalerie auf der Westseite seines Elternhauses. Für Lucan und den Rest seiner Familie hatte es kein Happy End gegeben.
„Vielleicht solltest du dich mal mit meiner Großmutter unterhalten.“
„Bist du völlig irre?“, fuhr er sie an, und Lexie zuckte heftig zusammen.
„Aber sie ist die Einzige, die dir sagen kann, was damals wirklich geschehen ist.“
„Ich war da, Lexie. Ich weiß, was wirklich geschehen ist.“
Doch sie schüttelte vehement den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich kenne doch meine Großmutter, Lucan. Sie ist kein Mensch, der einem anderen jemals absichtlich schaden würde.“
„Du hast deine persönlichen Vorurteile, das ist doch klar.“ Sein Blick war fast mitleidig. „Ganz offensichtlich liebst du sie, und in deinen Augen kann sie gar kein Unrecht begehen.“
„Deinen Vater hast du auch mal geliebt, und trotzdem bist du bereit gewesen, ihm alles Schlechte zuzutrauen“, konterte sie.
Lucan erstarrte. Natürlich hatte er seinen Vater geliebt. Er hatte sogar zu ihm aufgeschaut, ihn für unbesiegbar gehalten – für einen Mann, der nichts falsch machen konnte. Aber was für einem Irrtum war er da aufgesessen?
„Ich habe sicher nicht vor, mein Verhältnis zu meinem Vater ausgerechnet mit dir zu besprechen“, zischte er. „Im Moment frage ich mich lediglich, was du dir bei dieser ganzen Sache gedacht hast. Was hast du dir davon erhofft, mit mir ins Bett zu gehen?“
„Was ich mir erhofft habe?“ Sie glaubte, die Frage nicht richtig verstanden zu haben.
„Genau. Vorhin meintest du, es wäre reine Neugier gewesen, die dich dazu bewogen hat, diesen Job anzunehmen. Worauf genau warst du neugierig?“
„Auf dich. Auf deine Familie.“ Wie sollte man das nachvollziehbar erklären? „Ich war auf der Beerdigung von Grandpa Alex. An dem Tag stand ich ganz hinten in der Kirche. Und ihr drei, Gideon, Jordan und du, ihr habt vorn in aller Öffentlichkeit um einen Mann getrauert, dem ihr zuvor etliche Jahre aus dem Weg gegangen seid.“ Ihr Tonfall wurde härter. „Während meine Großmutter, die ihn unendlich geliebt und sehr lange begleitet hat, nicht erwünscht war. Sie saß in ihrem Cottage und hat um ihren Liebsten schmerzlich getrauert. Allein dafür habe ich euch alle gehasst!“
„Mich?“
„Ja, auch dich. Den hochwohlgeborenen fünfzehnten Duke von Stourbridge.“
„Ich sagte doch schon mehrfach, ich verwende diesen Titel nicht.“ Langsam verließ ihn die Geduld.
„Du wirst ihn sicherlich an dem Tag benutzt haben, als du dafür gesorgt hast, dass meine Nanna nicht zur Beerdigung kommen durfte“, gab Lexie zurück.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Hör auf, mich anzulügen!“ Sie seufzte. „Zumindest jetzt sollten wir ehrlich zueinander sein.“
„Du pochst auf Ehrlichkeit?“, wunderte er sich laut. „Das ist ja witzig. Du wagst es ernsthaft, von Ehrlichkeit zu sprechen, nachdem du mich von der ersten Sekunde an belogen hast?“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze. „Ich frage mich wirklich, wie du es bei Premier Personnel gedeichselt hast, dass du in mein Büro versetzt wurdest.“
„Die Firma gehört meinen
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